Folge den Kabeln!tun & lassen

Selbstorganisierte Server. Im Silicon Valley träumt man von insularischen Unternehmerstaaten. Währenddessen arbeiten Server-Kollektive von der Klosterneuburger Straße bis Mexiko an technischen Visionen abseits von Google & Co.

Text: Barbara Eder
Fotos: Carolina Frank

Hinter der mit Plexiglas verkleideten Fassade rotieren die Halbkreise wie gewohnt, die Lichtpunkte pulsieren regelmäßig. «Alles in Ordnung», sagt Renate Oblak. Sie ist bei Radio Orange, dem größten Community-Radio Europas, für die System- und Netzwerkadministration zuständig. Die wichtigsten Geräte der hauseigenen Infrastruktur befinden sich in einem Keller in der Wiener Klosterneuburger Straße, befestigt in einem metallenen Gestell. «Rack-mountable», sagt Renate und zeigt auf den gut zwei Meter hohen Serverturm, von dem unzählige Kabelverbindungen ein- und ausgehen. Er steht in einer selbstgebauten Kabine, die zwecks Hochwasserschutz mit Stelzen ausgestattet ist – auch mit einer Telefonverbindung, nur für den Notfall.

Gigantisches Kästchen.

Nichts an diesem Ding wirkt außergewöhnlich, und doch ist es der Sichtbarkeit meist entzogen. Auf den ersten Blick ist ein Server nicht mehr als ein unscheinbares Kästchen vom Format eines Videorekorders, seine technischen Funktionalitäten sind jedoch gigantisch. Server stellen Mail­services, Dienste und Daten im Internet zur Verfügung und sorgen damit für die Verbindung zwischen realer und virtueller Welt. Der tägliche Browser-Aufruf lässt dennoch selten auf die Existenz eines materiellen Dahinters schließen: Sofern keine Störung auftritt, macht die verborgene Welt der Server sich nur selten bemerkbar. Erst dann, wenn etwas nicht funktioniert, eröffnen sich erste Zugänge zu ihr – als Fehlermeldung im Bildschirmfenster, Leerstelle im Code oder jähe Unterbrechung beim Surfen.

Zutritt für Unbefugte.

Die selbstorganisierte Administration von Servern ist heutzutage keine Angelegenheit von Raketenwissenschaftler_innen mehr, die Praxis des «Self-Hosting» aber nach wie vor die Ausnahme. Radio Orange macht dahingehend den entscheidenden Unterschied: Die technische Umgebung für den ununterbrochenen Sendebetrieb wurde Mitte der 90er Jahre autonom aufgebaut und seither immer wieder modifiziert; ein Mittel dazu ist freie Software. Sie ermöglicht es, sich durch Patente, striktes Urheberrecht und proprietäre Software geschützte Technologien anzueignen und dadurch auch andere zu unterstützen: Mithilfe von freien Soft- und Hardware-Werkzeugen werden Codes entwickelt und weitergegeben, ohne versteckten Datenabfluss an die Hersteller oder andere Hintertüren im System. Bei Radio Orange arbeitet man mitunter mit denselben Servern wie bei Wikipedia, und doch funktioniert vor Ort alles anders. Während der Zutritt zu großen Serverfarmen gemeinhin streng reglementiert ist, gewährt das freie Radio auch Unbefugten gerne Zutritt – mit Blick auf einen doppelten Boden: Nach und nach verschwinden die von der Hinterseite der Server ausgehenden Kabelenden in einem Hohlraum unter der Erde.

Cyber-Sorge.

«Unsere Server stehen in Deutschland, über ein Netzwerkprotokoll können wir jederzeit darauf zugreifen», sagt ein Mitglied des Wiener Server-Kollektivs diebin.at. Seit Mitte der Neunziger vereinfacht das Secure-Shell-Protokoll die Arbeit an den Servern, bei intakter Internet-Verbindung erreicht man sie nunmehr von überall aus: Abseits aller physischen Umwege genügt eine numerische Adresse und ein geöffnetes Bildschirmterminal. Das Herstellen von Verbindungen dieser Art steht seit 2005 auch im Zentrum der Arbeit von diebin.at. Das Kollektiv hat sich die Schaffung von virtuellem Raum für feministische Initiativen auf die Fahnen geschrieben und dafür anfangs die Reste lokaler IT-Infrastrukturen der Universität Wien gekapert. Die Serverstandorte von diebin.at sind heute andere, die Anliegen aber dieselben. Der Verein stellt ehrenamtlich Mailinglisten, Websites und Mailservices zur Verfügung und gewährt auch Einblicke in die eigene Arbeit: «Wir garantieren nicht, dass immer alles funktioniert, vermitteln aber auch grundlegendes Wissen über Netz- und Serververwaltung», sagt eines der diebin.at-Mitglieder. Für das Kollektiv ist dies Teil einer als cyberfeministisch verstandenen Care- und Sorgearbeit – gekümmert wird sich dabei nicht um Kinder, sondern um IT-Infrastrukturen mit den Namen berühmter Anarcha­feministinnen des 20. Jahrhunderts.

Kompetenz ohne Guru.

«The clitoris is a direct line to the matrix», verkündete das feministische Netzkunst-Kollektiv VNS-Matrix noch zu Beginn der Neunziger; im Vergleich dazu ist die Praxis von diebin.at weitaus pragmatischer und effektiver. Es gehe nicht mehr darum, das Netz zu fetischisieren und den Kult darum fortzuschreiben; ebenso wenig kann es darum gehen, die dahinter stehende Arbeit unsichtbar zu machen. Der Typus des «schweigenden Samurais», der als allwissender IT-Guru im Hintergrund die Fäden zieht, war für diebin.at nie aktuell, gearbeitet wird kollaborativ und mit flexiblen Rollen. Das viel beschworene Zauberwort heißt nicht Security, sondern Server-Kompetenz – und sie wird in Workshops direkt an die queer-feministische Community weitergegeben.
Auch für das 2013 beim TransHackFeminist-Festival im katalanischen Calafou gegründete Tech-Kollektiv anarchaserver schließt die Arbeit an den Servern ein verändertes Selbstverständnis mit ein. Die Systemadministratorinnen kommen aus Katalonien, Belgien, Mexiko, Griechenland, Frankreich, Uruguay, Deutschland und Georgien, und sie koordinieren ihre Zusammenarbeit lose über alle Kontinente hinweg. Ihre virtuellen Arbeitsräume sind vielfältig und werden oft von befreundeten feministischen IT-Kollektiven zur Verfügung gestellt – um Aufgaben zu besprechen, zu planen und zu verteilen; und um gemeinsam internationale Veranstaltungen zum Thema Gender und Technik zu organisieren. Individuelle Geschlechterdefinitionen können variieren, als feministisch versteht anarchaserver sich aber allemal. «Wir brauchen die Freiheit, die Systeme, die uns unterdrücken, zu modifizieren», sagt spideralex dazu, «wir brauchen Autonomie und Entscheidungsfreiheit, um den ‹Patriarkapitalismus› zu hacken.»
Server heißt im Deutschen auch Diener_in, und benannt hat anarchaserver sich nach einer fast vergessenen unter ihnen: Anarcha war eine von fünfundsiebzig afroamerikanischen Sklav_innen, die auf der Wescott-Plantage in Alabama unter Peitschenschlägen zur Arbeit gezwungen worden waren. Sie war schwanger und wurde infolge einer medizinischen Fehlbehandlung bei der Geburt ihres Kindes inkontinent – ein Umstand, der den behandelnden Arzt dazu veranlasste, weitere chirurgische Experimente an ihr durchzuführen. Gemeinsam mit anderen Sklavinnen verhalf Anarcha jenem James Marion Sims gezwungenermaßen dazu, seine Techniken zu verfeinern – die Frauen, die er zu diesem Zweck missbrauchte, blieben hingegen namenlos: Anarcha, Betsey und Lucy haben kein schriftliches Erbe hinterlassen, da es Sklavinnen verboten war, zu lesen und zu schrei­ben; um sie nicht zu vergessen, hat anarchaserver ihre Rechner nach ihnen benannt.

Skandalfreie Server.

Unter dem Pflaster liegt nicht der Strand und an den Enden der Kabel kein Paradies: Server-Kollektive wie diebin.at und anarchaserver finanzieren ihre Arbeit weitgehend über Spenden. Angesichts der lebhaften Präsenz derartiger Initiativen müsste man sich danach fragen, warum die Mehrheit aller Internetnutzer_innen nach wie vor die Dienste von kommerziell orientierten Providern nutzt. Seit Jahren reißen die Datenschutzskandale rund um die großen Plattformen nicht ab, und auch das Bewusstsein, dass die Google-Mailbox nicht «for free» ist, dürfte in der Zwischenzeit gewachsen sein; feministische Rechenleistung kann dahingehend Alternativen schaffen – denn Umverteilung beginnt nicht nur im Kopf, sondern auch im Netz. Die Mail- und Webdienste von Anarcha, Emma und Alice stehen längst bereit. Nicht zuletzt, um dem faulen Zauber der verrückten Hutmacher aus dem Silicon Valley ein Ende zu machen. 

www.diebin.at
https://o94.at
https://anarchaserver.org
https://alexandria.anarchaserver.org

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