Franklin Delano Roosevelt und Ute BockDichter Innenteil

Der Dozent ließ Freund Groll mit einem Taxi abholen. Der Weg von Neu-Jedlersdorf am Marchfeldkanal zum Belgradplatz im tiefen Süden Favoritens war für einen Rollstuhlfahrer unzumutbar, denn selbst fünfzehn Jahre nach der Einführung des neueren Tramwaymodells ULF verkehren auf der Brünnerstraße antike Straßenbahngarnituren, die für Rollstuhlfahrer nicht benützbar sind.

Foto: Mario Lang

Blühendes Land am Meer. Ventspils, Lettland

 

Groll war im Jahr 2000 längere Zeit in London gewesen und hatte dort erlebt, wie eine zentrale Durchgangsstraße Innerlondons, die Marylebone Road*, von einem Tag auf den anderen umgestellt wurde, es waren von diesem Tag an alle Busse mit dem Rollstuhl befahrbar – und das ausnahmslos. Da die Intervalle auch spätnachts zehn Minuten nicht überstiegen, war das Warten selbst bei schlechter Witterung möglich. In Wien kann man sich bis heute nicht zu einer lückenlosen Führung der Tramways mit modernen, barrierefreien Tramways durchringen, was bedeutet, dass man drei oder vier Garnituren passieren lassen muss, bevor eine passende erscheint. Wartezeiten von zwanzig Minuten und mehr sind dann keine Seltenheit. Was dies bei winterlichen Temperaturen bedeutet, wusste der Dozent nur allzu gut, denn die Anfälligkeit seines Freundes für Harnwegsinfekte infolge eisiger Witterung sorgte immer wieder dafür, dass gemeinsame Ausfahrten unmöglich wurden. So griff der Millionärserbe in die Tasche und finanzierte ein Taxi. Der Dozent war für seine Knausrigkeit berüchtigt, nicht selten, dass er sich von seinem Freund und Mindestrentner zum Essen einladen ließ. Es muss also einen triftigen Grund geben, warum man mich einfliegen lässt, dachte Herr Groll auf der Fahrt, die eine gute Stunde währte. Am Belgradplatz wartete der Dozent, auf sein Rennrad gestützt.

«Ich mache Sie mit den Gegebenheiten vertraut», sagte er zur Begrüßung. «Hier haben wir den Barankapark. Bis 1941 trafen sich hier Roma, Sinti und Lovara, Letztere gingen ihrem angestammten Gewerbe, dem Pferdehandel, nach. Baranka war der Name einer Naturheilerin, die aus der Gruppe stammte. 1941 wurden die ‹Zigeuner› in Konzentrationslager verbracht und ermordet. Und hier, dieser riesige Backsteinbau, war einst die Heller Schokolade- und Zuckerwarenfabrik. Sie wurde nach 1938 arisiert. André Heller ist ein Spross der Familie.»

«Wo man hinspuckt: österreichische Geschichte», sagte Groll und sah sich um. Einige Buben spielten in einem Käfig Fußball, sie kickten mit Leidenschaft und Talent.

«Sie haben von Ute Bocks Tod gehört?», fragte der Dozent.

Groll nickte.

«Ihr offenes Haus für Flüchtlinge ist gleich um die Ecke, in der Zohmanngasse. Wollen wir kurz vorbeischauen?»

Anstelle einer Antwort setzte Groll sich in Bewegung. Kurze Zeit später standen sie vor dem Haus.

«Der Standard berichtet von Hunderten Hasspostings in den Sozialen Medien. Frau Bock werden Tausende Tode gewünscht, noch der Leiche will man den Kopf erschlagen, man will sie ertränken, vergiften, ausradieren. Wie kann man sich diesen entsetzlichen Hass erklären?»

«So sind sie eben, die blauen österreichischen Patrioten.»

«Ihre Gelassenheit hat etwas Abschreckendes. Werden Sie beim Lichtermeer zum Gedenken an Ute Bock dabei sein?»

«Wie soll ein Rollstuhlfahrer eine brennende Kerze halten und gleichzeitig beweglich bleiben? Ich würde nur ein Rad antreiben und im Kreis fahren. Das würde schön dumm ausschauen.»

«Sie könnten sich auch schieben lassen. Sie können auf mich …»

Groll machte eine abwehrende Handbewegung. «Sie wissen, wie ich darüber denke. Joseph sieht das ebenso. Er würde niemanden an seine Griffe lassen.»

Sie standen noch eine Weile schweigend vor dem Flüchtlingsheim und kehrten dann zum Belgradplatz zurück.

*Die Marylebone Road zieht von Paddington quer durch die Stadt und mündet in die Autobahn A 40, die in die Midlands und nach Nordengland führt. Sie bedient mehrere Bahnhöfe, Charles Dickens schrieb auf Hausnummer 17 sechs Romane und bei Madame Tussauds kann man Charlie Chaplin die Hand schütteln. Von älteren Londonern wird sie auch «Little America» genannt, weil die US-amerikanische Botschaft an ihr liegt. Eine monumentale Statue am Grosvenor Square präsentiert Franklin D. Roosevelt – allerdings ohne Rollstuhl – und zeugt von der Verehrung der Briten für den Mann, der sie aus der tödlichen Belagerung des Deutschen Reichs rettete. Eine Gruppe behinderter Menschen kämpft seit Jahren darum, Franklin Delano im Rollstuhl zu zeigen, wie es die amerikanische Independent-Living-Bewegung in Washington durchgesetzt hat. Einem Mann, der die körpergestählten Nazis aus dem Rollstuhl besiegte, darf man sein Hilfsmittel nicht unterschlagen. Vor wenigen Tagen wurde in Nine Elms an der Themse die neue US Embassy eröffnet. FDR blieb an seinem alten Platz.