Frau am Sockelvorstadt

Wer durch Wien spaziert, ist umgeben von imposanten Kriegsherren, Komponisten und Politikern. Erst auf den zweiten Blick fällt auf: Die steinerne Frau ist in Wien eine Rarität. Von den rund 3.370 Denkmälern sind es gerade einmal 21, die an das Leben einer realen weiblichen Person erinnern.

TEXT & FOTOMONTAGEN: IRMI KOLLER

«Dort, wo das hundertste Kriegerdenkmal steht, dort sollte eigentlich die Pazifistin Bertha von Suttner stehen, und zwar groß», sagt Elke Papp, die als Tourguide aus dem Leben von historischen Wienerinnen berichtet. Treffpunkt ist am oberen Ende der Rahlstiege. Interessierte nimmt sie mit auf einen Stadtspaziergang. Von den Kaufwütigen auf der Mariahilfer Straße blickt niemand auf die Gedenktafel, die am ersten Gebäude der Straße angebracht ist. Elke Papp erzählt von Lina Loos. «Alles auf die Spitze treiben» war das Motto dieser Schauspielerin der Jahrhundertwende. Sie setzte sich auch gegen die Judenverfolgung ein. Als 1938 die Synagogen brannten, ging sie von Tatort zu Tatort und sprach die Worte «Ich bin Zeugin!»
Denkmäler für Frauen wie Lina Loos gibt es nicht. Warum ist das so? «Früher war es schlichtweg undenkbar, der Frau in der Öffentlichkeit so viel Raum zu geben», sagt Elke Papp. Für den Spaziergang zum Thema Wiener Frauen interessieren sich tendenziell eher Geschlechtsgenossinnen. Aber auch Männer wollen mehr erfahren. Manche Namen der Pionierinnen wurden schon einmal gehört, viele Geschichten sind neu. Während die Errungenschaften der Männer allerorts präsent sind, gestaltet sich die Reise ins weibliche Wien eher als eine Spurensuche. Die Denkmäler sagen für sie auch etwas über die Stadt aus: «Ein Denkmal ist ein Bekenntnis. Bekennt sich die Stadt auch zu der Leistung von Frauen, oder steht weiter das Werk der Männer im Vordergrund? Was will die Stadt sein, wen möchte sie repräsentieren?»

Wien wird weiblicher.

Wer alle Wiener Straßen, die nach Frauen benannt wurden, abwandern möchte, hat eine Strecke von 109 Kilometern vor sich. Wer dasselbe mit den männlichen Straßen versuchen möchte, braucht schon deutlich mehr Ausdauer: 1541 Kilometer lang sind alle nach Männern benannten Straßen laut genderATlas.
Das Thema Sichtbarkeit von Frauen ist in Wien schon seit mehreren Jahren ein Thema. Bis jetzt ging es nicht um Denkmäler, sondern um die Benennung von Plätzen und Straßen nach Frauen. Es wird jedoch noch lange kein ausgewogenes Verhältnis bestehen. Das liegt vor allem daran, dass vorher namenlose Gassen, Plätze und kleine Wege in Wohngebieten nach Frauen benannt werden. Elke Papp sieht manche Pionierinnen, wie Bertha Zuckerkandl, nicht angemessen repräsentiert: «Zuckerkandl war eine wichtige Figur der Jahrhundertwende, in ihrem Salon diskutierte ganz Österreich. Ohne sie wäre Klimt nicht geworden, wer er war. Heute ist nach ihr ein abgelegener Weg am Donaukanal benannt. In Wirklichkeit kommt dort fast nie jemand hin.»
Während die zentralen Straßen und Plätze kaum umbenannt werden, setzt man in neuen Wohngebieten ein Zeichen: In der Seestadt Aspern wird fast ausschließlich nach Frauen benannt.

Wie ein Denkmal entsteht.

«Dass es mehr Denkmäler für Männer als für Frauen gibt, ist historisch gewachsen und bedingt. Das trifft auch für die Benennung von Straßen und anderen Verkehrsflächen zu», so Marianne Taferner vom Referat Kulturelles Erbe der Stadt Wien.
Die Errichtung von Denkmälern erfolgt auf Initiative und auf Kosten von privaten Stifterinnen und Stiftern, beispielsweise durch Interessensvertretungen, Vereine, Komitees oder Botschaften. Diese sind auch für die Einholung sämtlicher Genehmigungen und die bauliche Umsetzung zuständig.
Jedes Projekt, das auf einer Fläche der Stadt Wien errichtet werden soll, muss dem in der Kulturabteilung der Stadt Wien angesiedelten Beirat zur Errichtung von Gedenk- und Erinnerungszeichen vorgelegt werden. Der Beirat setzt sich aus fünf Mitgliedern, davon zurzeit vier Frauen, aus den Bereichen Kunst, Architektur, Landschaftsplanung und Geschichte zusammen. Sie hinterfragen die historischen und politischen Beweggründe, wie auch die vorgeschlagene künstlerische Umsetzung. Ob ein Denkmal entsteht, entscheidet dieser Beirat jedoch nicht. Er gibt eine Empfehlung für die politisch Verantwortlichen ab. Auch ein öffentliches Budget für Denkmäler gibt es nicht, die Finanzierung muss von den Errichtenden übernommen werden. Lediglich die Instandhaltung und Restaurierung bereits gestifteter Denkmäler obliegt der Stadt Wien.

Mehr als Muse.

Die Siegesgöttin Victoria reicht Beethoven den Lorbeerkranz. Er blickt gelangweilt in die andere Richtung. Das Beethoven-Denkmal im Ersten Bezirk ist ein typisches. An weiblichen Darstellungen mangelt es oft nicht: Aber die Frau ist nur ästhetischer Schmuck, hübsches Beiwerk oder Allegorie. So sah es auch bis vor wenigen Jahren im Arkadenhof der Universität Wien aus.
Dieser wurde von 154 Männerbüsten dominiert. Lediglich eine einzige Gedenktafel für eine Frau, Marie von Ebner-Eschenbach, gab es dort. An der Universität studiert oder gelehrt hat sie allerdings nie. In der Mitte steht der Brunnen der Kastalia, als Hüterin der Quelle der Weisheit, die die Männer im Hof inspirieren sollte. Die Frauen standen auch an der Universität lange im Schatten. Das hat die Künstlerin Iris Andraschek mit ihrem Projekt Der Muse reicht’s angeprangert. Vor dem Brunnen der Kastalia sieht man seit 2009 einen 28 Meter langen Schatten, aufrecht stehend, die geballte Faust zum Himmel gestreckt.
Das 650-Jahr-Jubiläum nahm die Universität zum Anlass, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Marie von Ebner-Eschenbach hat weibliche Gesellschaft bekommen. Sieben neue Denkmäler für Wissenschaftlerinnen sind in den Arkadenhof eingezogen.

Trümmer der Vergangenheit.

Eines der wenigen Frauendenkmäler in Wien wurde auf Initiative der FPÖ errichtet. Das Trümmerfrauen-Denkmal auf der Mölker Bastei wurde 2018 enthüllt und soll an die Frauen erinnern, die nach dem Zweiten Weltkrieg am Wiederaufbau der zerstörten Stadt beteiligt waren. In der Forschung ist man sich mittlerweile einig, dass diese angeblichen «Heldinnen des Wiederaufbaus» großteils ehemalige Nationalsozialistinnen waren, die zum Dienst verurteilt wurden. Die Stadt Wien hat sich vom Denkmal distanziert, daher steht es auf privatem Grund.
Das Hinterfragen problematischer Denkmäler ist auch ein Teil der Black-Lives-Matter-Bewegung. In den Vereinigten Staaten stürzten Aktivist_innen Denkmäler ehemaliger Kolonialherren. Auch der Amerika-Entdecker Christopher Kolumbus wurde in einem See versenkt. In Wien war man dabei weniger drastisch: Es gab keinen Denkmalsturz, jedoch wurde das Karl-Lueger-Denkmal mit Farbe besprüht. Bereits seit Jahren gilt das Denkmal als umstritten. Das Wort «Schande» spielt auf die antisemitische Haltung des ehemaligen Wiener Bürgermeisters an. Derzeit arbeitet die Stadt Wien an einem Konzept, um dieses Denkmal in einen Kontext zu setzen.
Während vorbelastete Denkmäler lange bestehen bleiben, erinnert kein Denkmal an unzählige jüdische Vordenkerinnen. Viele Geschichten sind bis heute nur wenigen bekannt. Else Feldmann ist eine von ihnen: Sie war Schriftstellerin und Journalistin und widmete sich in ihrer Arbeit Themen wie Kinderarmut und Elend in den Armenvierteln der Stadt. 1942 wurde sie von der Gestapo verschleppt und im Vernichtungslager Sobibór an der polnischen Grenze ermordet.

Für die Pionierinnen von morgen.

Warum ist es eigentlich wichtig, dass auch die Errungenschaften von Frauen im Stadtbild sichtbar sind? «Um Mädchen und Frauen in ihrer persönlichen Entwicklung zu ermutigen», sagt Johanna Gehmacher, Historikerin und Professorin für Frauen- und Geschlechtergeschichte an der Universität Wien.
Dieselbe Absicht steckt auch hinter einem Kunstprojekt aus den Vereinigten Staaten. Mehr als 120 Pionierinnen aus der Naturwissenschaft, Informatik und Technik wurden als Statuen in einem Park in Texas ausgestellt. Die leuchtend orangen Genies kamen aus dem 3D-Drucker. Der Anteil an weiblichen Studierenden in diesen Fächern ist immer noch gering, dem möchte man entgegenwirken, nach dem Motto: «If she can see it, she can be it». Denn nur wenn man Rollenvorbilder vor den Vorhang holt, können sie andere Frauen inspirieren, einen ähnlichen Weg einzuschlagen.
Bei der Errichtung von Denkmälern geht es nicht nur um Symbolpolitik, sondern um ein kollektives Gedächtnis der Stadt. Welche Geschichte wird erzählt, welche verschwiegen? Es stellt sich die Frage, ob eine imposante Körperstatue der Frauen heute überhaupt noch zeitgemäß wäre. «Denkmäler, die heutzutage errichtet werden, sind eher themenbezogen oder Personengruppen gewidmet und die Darstellungen sind zumeist abstrakt», sagt Marianne Taferner von der Kulturabteilung der Stadt Wien. Die Sichtbarkeit von Frauen im Stadtbild müsse neu definiert werden, meint auch «Stadtverführerin» Elke Papp. Die Möglichkeiten hierfür seien endlos. Eine Option sei auch, nicht ihre Körper, sondern ihre Werke als Denkmäler auszustellen. Es kann und soll neue Arten geben, an die Frauen zu erinnern. Es gilt, ihre Geschichten zu erzählen, ob bei einem Stadtspaziergang mit Tour­guide, in Ausstellungen, in den Medien und vor allem auch im Unterricht an Schulen. Elke Papp ist selbst schon als Fremdenführerin in die Rolle der Lina Loos geschlüpft und im Kostüm durch die Stadt spaziert. Vielleicht muss man unsere Pionierinnen gar nicht in Bronze gießen, sondern kann sie lebendig werden lassen. 

Der Tag des Denkmals wird heuer unter dem Motto Denkmal inklusive … am 26. September österreichweit abgehalten.
Zum Programm: https://tagdesdenkmals.at