Frau Mwangi zieht in den Gemeindebautun & lassen

60 Jahre ’56: Ungarische Wiener_innen erzählen, Teil 2

Etwa 20.000 «56er» blieben nach ihrer Flucht aus Ungarn in Wien. Bei Anna Mwangi war es ein bisschen anders: Sie kam als Diplomatentochter und wurde erst Jahre später zum Flüchtling. Lisa Bolyos hat sich von ihr erzählen lassen, wie sie 1956 als Tochter von Kommunist_innen erlebt hat, wie es einer vermeintlichen «Ausländerin» im Gemeindebau geht und wieso sich ein österreichischer Architekt in der Geheimdienstakte ihres Vaters wiederfindet.

Foto: Wiener Pressephoto Henisch, © Schweizer Sozialarchiv Signatur

Am 11. Oktober 1988 entschied der Oberste Gerichtshof in der Sache KPÖ vs. ORF: «Der Revision wird nicht Folge gegeben.» Punkt des Anstoßes: «Der Aufstand. Wien im Feuerschein der ungarischen Revolution», ein Film von Thomas Pluch. Darin wird folgende Geschichte, angesiedelt im Jahr 1956, erzählt: Ernst Bach, Redakteur des KP-Organs «Volksstimme», wird von einem KGB-Agenten davon überzeugt, dass die USA Waffen von österreichischem Hoheitsgebiet an die ungarischen «Konterrevolutionäre» liefern; Ernst Bach lässt sich täuschen und bringt die Meldung in der «Volksstimme». Ein veritables Desaster.

Die Kommunistische Partei beantragte für die Ausstrahlung des Films Schadenersatz. Der OGH entschied, man möge die Kunst Kunst sein lassen und nicht so leicht beleidigt sein. (So verschieden sind denn auch die Geschmäcker: Pluchs Drehbuch war im ORF zunächst auf Widerstand gestoßen. Begründung: «Die Kommunisten kommen viel zu gut weg.»)

Liest man in der «Wiener Zeitung» aus dem November 1956 nach, so findet sich darin ein Textchen, das das Grundgerüst der Geschichte erzählt: «Außenminister Figl: Keine Ursache zur Beunruhigung», wird getitelt, und geschrieben steht da, die «Volksstimme» habe gemeldet, «daß vom Schwechater Flughafen unter dem Deckmantel von Hilfeleistungen pausenlos Waffen und Munition nach Ungarn gebracht würden». Die österreichische Neutralität war in Frage gestellt. Die KPÖ, die selbst die beginnende Entstalinisierung durch Chruschtschow noch als imperialistische Propaganda abtat, konnte in Ungarn keinen «Volksaufstand» erkennen, sondern nur ein Kontern gegen die revolutionären Kräfte des Warschauer Pakts. Viel mehr als die Geschichte mit dem fingierten Waffenhandel hat sie vielleicht geärgert, dass der Ernst Bach in Pluchs Version einknickt; er entscheidet sich gegen die Parteilinie und für die Aufständigen.

 

«Richtige Kommunisten»

Anna Mwangis Eltern waren «richtige Kommunisten», sagt sie. «Nach dem Krieg waren meine Eltern froh, dass die Russen gewonnen und Ungarn befreit haben. Aber diese Freude ist schnell vergangen, als sie den Terror gesehen haben. Sie waren sehr, sehr enttäuscht.» Der Herbst 1956 war für die beiden ein Schimmer der Hoffnung. «Sie sind nicht geflohen. Sie haben geglaubt, es kommt jetzt was anderes, was Neues. Ein neues Zeitalter. Weit gefehlt.» Der Vater hatte, seiner fehlenden Linientreue zum Trotz, einen Posten in der ungarischen Regierung. Anna Mwangis Familie lebte auf der Budaer Seite, am «Szabadság-Hegy», dem Freiheitsberg, der erst 1990 unverfänglich nach Graf Széchenyi umbenannt wurde. Die Freiheit ist ein zu hart umkämpftes Thema in der Geschichte Ungarns.

Heute lebt Anna Mwangi in der Eipeldauer Straße im Gemeindebau. Dort erfrage ich an einem regnerischen Herbsttag Details aus ihrer Geschichte, die sie ansatzweise schon in ihrem autobiografischen Roman beschrieben hat: «Die Kinder des Genossen Rákosi».

Im Herbst 1956 war Anna Mwangi elf Jahre alt. Der Vater, 1949 in Ungnade gefallen und nach fünf Jahren Gefängnis rehabilitiert, kam zurück in die Familie. Anna Mwangi besuchte die deutsche Schule in Budapest. «Ich habe eine richtige kommunistische Erziehung genossen», sagt sie, und dass sie 1956 eine Woche lang im Luftschutzkeller war. «Man hat schon geglaubt, man hätte gewonnen, und die Schule wurde gleich reformiert. Der Russischunterricht wurde durch Deutsch ersetzt, das ging ganz schnell.» Lange hielt die Reformfreudigkeit nicht an. «Der amerikanische Präsident hat gesagt, wegen Ungarn werden wir doch keinen Weltkrieg riskieren – da sind die Russen sofort zurückgekommen.»

Der Vater wurde indes Leiter des ungarischen Reisebüros «Ibusz», das war, sagt Anna Mwangi, «kein einfacher Reisebürodirektor, sondern ein wichtiger politischer Posten». Er bekam die Erlaubnis, mit der ganzen Familie nach Wien zu ziehen, in eine feine Diplomatenwohnung, mit entsprechendem Abhörgerät versehen – aber dazu später. Als der Vater eines Tages nach Budapest fuhr, wurde er verhaftet. Er habe, so die Begründung, eine Verschwörung gegen die ungarische Republik angezettelt und pflege Kontakt zu konterrevolutionären Kräften. «Er hat uns aus dem Gefängnis angerufen. Wir sollten sofort zusammenpacken und ohne jemandem etwas zu sagen einfach wieder nach Ungarn zurückkehren. Aber meine Mutter hat beschlossen, stattdessen um politisches Asyl anzusuchen und für meinen Vater zu kämpfen.» Ein zäher Kampf, den sie gewann. Der Vater konnte nach Wien ausreisen – unter der Auflage, dass er allen Besitz zurückließ, sprich: seiner Enteignung zustimmte. Die Diplomatenwohnung war Geschichte, aus vierzig Jahren Staatsdienst ergab sich nicht ein Groschen Pension. Die Familie zog nach Floridsdorf. An der Autokaderstraße hatte die Volkshilfe mit Mitteln des UNHCR 1957 eine Siedlung bauen lassen: 31 Doppelhäuser mit 62 Wohnungen, die sogenannte «Ungarnsiedlung».

 

Inländer im Gemeindebau

In Wien, sagt Frau Mwangi, sei alles viel fortschrittlicher gewesen als in Budapest. Nicht nur politisch, auch was die Sexualität und die Selbständigkeit der Jugend betraf. «Ungarn war noch im 19. Jahrhundert!» Anders als ihre Mutter, die sich nicht damit anfreunden konnte, plötzlich zur «Ausländerin» geworden zu sein, wusste Anna Mwangi schon nach wenigen Wochen, dass sie nicht mehr zurückwollte. «Wir Kinder waren letztlich direkt froh, dass wir zu Flüchtlingen geworden sind.»

Die beiden Geschwister, heute ein Psychologe und eine Universitätsprofessorin, sind nach Amerika ausgewandert. «Meine Eltern wollten, dass ich auch gehe. Aber ich habe einen Mann kennengelernt und ihn geheiratet.»

Dieser Mann war ebenfalls neu in Wien. Er war Student, kam aus Kenia, hatte kein Stipendium, musste viel arbeiten, brach das Studium ab. Als ihm die Abschiebung drohte, heirateten die beiden. Und blieben zusammen – erst in einer teuren Untermietwohnung, später im Gemeindebau. Anna Mwangis Mutter hat kaum glauben können, dass ihre Tochter allen Ernstes einen Afrikaner heiratet. «Die hat den Kontakt abgebrochen und erst wieder mit mir gesprochen, als das erste Kind da war.» Aber nicht nur die Mutter, auch die Belegschaft im Gemeindebau hat der jungen Familie zugesetzt. «Damals waren im Gemeindebau nur Österreicher, wir sind aufgefallen.» In den 90er Jahren begann die FPÖ ihre Angriffe auf «Ausländer im Gemeindebau», da hat die Hausmeisterin Unterschriften gesammelt, um die Familie Mwangi zum Ausziehen zu zwingen. Durchgesetzt hat sie sich damit nicht, aber schmerzhaft war das sehr wohl. «Und es hat hier auch viele Skinheads gegeben. Die haben zu meinem Mann gesagt: He, du bist ein Neger. Er darauf: Stimmt, gehen wir einen trinken! Und sie sind Freunde geworden. Mein Mann war sehr gut darin, mit Rassismus umzugehen.»

Manchmal, erzählt Frau Mwangi, fragt sie ihre Kinder, ob sie diskriminiert würde. Dann sagt zum Beispiel der Sohn, der Theaterschauspieler in den Kammerspielen wurde, «dass er oft für sein gutes Deutsch gelobt wird. Und wie ihn das ärgert».

 

Akteneinsicht und ein bleibender Akzent

Die Eltern haben den Fall des Eisernen Vorhangs nicht mehr erlebt. Anna Mwangi selbst fuhr postwendend in ihre alte Heimatstadt – und ließ sich den Akt ausheben, den die Staatssicherheit über ihren Vater angelegt hatte. Auf dreitausend Seiten bekam sie zu lesen, wer was über ihre Eltern erzählt hatte. Nicht weiter schwer herauszufinden, um wen es sich bei den Decknamen handelte: «Frauen hatten Frauennamen, Männer hatten Männernamen, die Vornamen blieben gleich, und die Familiennamen haben mit dem gleichen Buchstaben angefangen», sagt sie und quittiert solch profane Methoden mit einem Kopfschütteln. Neben vielen Freund_innen der Familie war, wenig überraschend, auch der Architekt darunter, der die Wohnung in Wien eingerichtet hatte. «Er war ein Mitglied der KPÖ. Er hat sich als Freund ausgegeben, der damit betraut ist, uns eine Wohnung einzurichten im Namen des ungarischen Staates. Er macht alles, wir brauchen uns um nichts zu kümmern, er war sehr viel allein in unserer Wohnung. Die Abhörgeräte, die er angebracht hat, waren zuerst nicht gut, er wurde gerügt – auch das ist in dem Akt gestanden.» Ob sie irgendwelche Bekannten mit ihrem Wissen aus dem Akt konfrontiert hat? Nein. «Mit dem Architekten wollte ich schon reden; aber sein Sohn hat mir gesagt, er ist im Altersheim, hat Alzheimer und kann sich an nichts erinnern.» Altbekannte Strategien. Und froh war sie immerhin, sagt Frau Mwangi, dass ihre Eltern sich all das erspart hatten: «Sie wären sehr unglücklich gewesen.»

Unglücklich wären sie wohl auch über die Entwicklungen in Ungarn geworden. «Wenn ich sehe, wie antisemitisch dieses Land geworden ist, wie es die Roma diskriminiert und die Flüchtlinge – dann bin ich froh, dass ich dort nicht mehr lebe», sagt Anna Mwangi. Die ungarische Staatsbürgerschaft könnte sie leicht zurückbekommen: «Wer aus Ungarn stammt, hat Privilegien. Da gilt so eine Blut-und-Boden-Ideologie.»

Statt zurückzukehren hat sie in Wien studiert und als Hauptschullehrerin gearbeitet. Sehr gern hat sie das allerdings nicht gemacht. «Ich wusste nicht, wie voraussetzungsvoll es ist. Ich konnte mich nicht durchsetzen.» Erst in den letzten Jahren vor ihrer Pensionierung wurde sie Förderlehrerin für Kinder von Gastarbeiter_innen und Flüchtlingen. Deren Erfahrungen konnte sie nachvollziehen, und die stießen sich auch nicht an ihrem Akzent: «Den hab ich nämlich nie weggekriegt.» Wenn sie noch einmal von vorne beginne würde, würde sie vielleicht auch Journalistin werden, sagt sie. «Oder jedenfalls irgendetwas mit Schreiben.»

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