Fremde Muttertun & lassen

Tagebuch einer pflegenden Annäherung (1)

Unverhofft kam die Journalistin Bärbel Mende-Danneberg in die Situation, ihre demenzkranke Mutter zu pflegen, ohne wirklich zu wissen, worauf sie sich da einlässt. Im Laufe der Zeit wächst eine Beziehung zwischen ihr, der fremden Frau und allen Beteiligten. Den Pflegealltag beschreibt Mende-Danneberg als belastend, zermürbend, trotzdem aber insgesamt abenteuerlicher und menschlich bereichernder als sämtliche Allinclusiv-Urlaube zusammen. Ohne fremde Hilfe geht es nicht. Doch die ist teuer und rar. Wenn 80 Prozent der zu pflegenden Menschen von ihren Angehörigen, meist weiblich, betreut werden, weist das auf einen akuten Pflegenotstand hin. Der Augustin publiziert das Tagebuch des Alltags mit der fremden Mutter in acht Teilen.

Juli 2003

Mutter ist nun also seit fünf Tagen bei uns in Österreich. Ein unvorstellbarer Wechsel – mit 91 Jahren von Berlin nach Wien zu übersiedeln! Sie lebt mit meinem Mann und mit mir in unserer Wohnung in Wien, die zum Glück so groß ist, dass sie ein eigenes kleines Zimmer hat. An den Wochenenden fährt sie mit uns in unser Bauerhaus ins Waldviertel.

Mein älterer Bruder und seine Frau, die sich in Berlin um meine bis dahin allein in ihrer kleinen Wohnung lebende Mutter gekümmert hatten, wollten dies nicht mehr länger tun. Geld ist auch keines vorhanden für ein gutes Pflegeheim in ihrer Heimatstadt, also werde ich sie pflegen, denn ich bin gerade in Pension gegangen. 80 Prozent der zu pflegenden Menschen werden zu Hause von ihren Angehörigen betreut. Warum soll das bei mir anders sein?

Mein Mann machte übrigens den Vorschlag, meine Mutter in der letzten Strecke ihres Lebens zu begleiten, weil ich ein solches Angebot vor Jahren auch seiner Mutter gemacht hatte. Die aber zog es vor, in ein Heim zu gehen und dort zu sterben. Das kann man Kindern nicht zumuten, sagte sie damals zu mir.

Gleich in der ersten Nacht, es war eine schöne, laue Liebesnacht mit meinem Mann im Waldviertel, ist Mutter schwer gestürzt. Lust und Strafe liegen eng beisammen. Es ist aber einigermaßen glimpflich abgelaufen – blauschwarzer Arm, lädiertes Kinn, blauer Finger, aufgeschlagene Knie und Rippenschmerzen. Es hätte schlimmer sein können – Oberschenkelhals oder Gips oder so.

Die letzten Nächte waren fürchterlich, Mutter geistert. Ich habe zu wenig Schlaf, habe Angst, dass sie wieder stürzt. Wie es ihr psychisch mit der Umstellung geht, kann ich nur ahnen. Manchmal blickt sie ganz verloren in die Gegend, fragt, wie sie denn wieder zurückkommt. Wohin denn? Nach Hause, Berlin-Zehlendorf, sagt sie. Ich erkläre ihr, dass sie erst einmal bei uns bleibt. Sie küsst mich und sagt, es ist schön, wenn man eine Familie hat. „Ach Mädchen, was würde ich denn ohne dich machen …“ Es ist anstrengend, zu jeder Tages- und Nachtzeit bereit zu stehen. Ich denke aber, das gibt sich vielleicht mit der Zeit.

Womit ich absolut nicht gerechnet habe: Dass meine Mutter schwer Alzheimerkrank ist. Davon hatte mir keines meiner drei Geschwister etwas gesagt. Seit 30 Jahren lebe ich in einem anderen Land und habe meine Mutter nur sporadisch in den Ferien gesehen oder wenn wir meine Schwägerin und meinen Bruder bei der Betreuung in Berlin kurzfristig etwas entlastet haben. Mutter war zwar vergesslich und hatte immer einen passenden Spruch parat aber Alzheimerkrank? Oder ist es eine Altersdemenz? Ich kenne mich nicht aus damit.

Nun lebt bei uns eine fremde Frau. Meine Mutter.

Oktober 2003

Jetzt ist Mutter schon länger als ein viertel Jahr bei uns. Den Sommer über haben wir am Land gelebt und seit September sind wir wieder in der Stadt. Es hat sich irgendwie eingespielt. Den Wechsel, vor dem ich solche Angst hatte, hat Mutter gut überstanden. Erstaunlich!

Heute geht es Mutter nicht so gut, sie liegt und schläft. Das Wetter ist auch saumäßig kalt und Regen und grippig. Jedes mal, wenn Mutter so daliegt, frage ich mich, ob nun die schlimme Zeit anfängt Bettlägerigkeit, Intensivpflege, Abschied vom Leben. Dann denke ich nach übers Sterben und was man ihr noch Gutes tun sollte und wie das einmal mit uns sein wird.

Erfreulich ist es mit unserer Nachbarin in Wien, einer Frau Rechtsanwältin. Sie hat sich bereit erklärt, einmal in der Woche drei Stunden auf Mutter aufzupassen, jeden Dienstagnachmittag. Vorgestern war Premiere und es hat wunderbar geklappt. Das schätze ich sehr sie macht es ohne Bezahlung und sagt, auch sie hätte ihre Mutter und ihren Mann, der schon alt war, betreut und sie habe Hochachtung vor jedem, der das macht.

Heute Badetag. Haare waschen. Nägelschneiden. Ich schaue mir Mutters Fußnägel an. Verkrümmt. Mit diesen Beinen ist sie vor 60 Jahren auf brennendem Asphalt durch den Krieg gerannt, mit mir schwanger. Ich denke dann an den Tod, wenn ich ihre Fußnägel schneide, ich schaue sie an und weiß nicht, was ich in meiner Erinnerung festhalten möchte. Wahrscheinlich sind es diese körperlichen Dinge, die hängen bleiben, der körperliche Verfall. Erinnern möchte ich aber ihre oft fröhliche Art. Ihre Genügsamkeit. Wie ist es mit dem Tod vor Augen? Ich bewundere, dass sie den Ortswechsel so überstanden hat. Man hat ihr alles an Identität dadurch genommen bis auf die paar Fotos. Aber alles andere, die Wohnung, die Stadt, das Land, die Menschen, die Gewohnheiten, die Gerüche und die Geräusche sind ihr fremd.

Mein Mann hilft mir sehr bei der Betreuung, er geht zum Beispiel mit Mutter im Schweizergarten spazieren oder fährt stundenlang mit ihr im Auto durch die Gegend. Das liebt sie wie ein kleines Kind im Kinderwagen.

Gestern war ich eher deprimiert, weil mit Mutter kaum etwas anzufangen ist, sie ist so interesselos. Und dabei so lieb. Aber manchmal habe ich den Eindruck, sie will nur unterhalten werden und ich soll permanent neben ihr sitzen. Dabei tue ich ihr sicher Unrecht was hat sie denn vom Leben, den ganzen Tag im Sessel sitzen? Nein, so ist das auch wieder nicht. Erstmal Körperpflege, das genießt sie. Dann Essen, das genießt sie auch. Spazierengehen jeden Tag, das findet sie auch schön, dann Beschäftigungen wie meine Gewürzladen aufräumen, Nüsse knacken, Kuchenbacken, Gemüse putzen, das alles kann sie noch. Sie hat hier sicher mehr Abwechslung als in Berlin.

November 2003

Seit dem Wochenende geht es Mutter nicht gut. Sie ist unruhig, verwirrt, schwitzt sehr, dass sie immer einen nassen Kopf hat, sie hat so leere Augen, bisher waren sie doch so wach. Sie sagt: Am besten, ihr schmeißt mich weg. Ich kann auch kaum etwas mit ihr machen, außer Spazierengehen, aber sonst eben habe ich ihr ein Märchen vorgelesen, aber sie versteht es nicht, obwohl sie die Kopfhörer aufhat.

Heute ist sie ganz weit weg. Ich denke oft an den Tod.

Mutters bescheidene Ansprüche fressen mich manchmal auf, ihre kleinen Vorwürfe und Blicke, wenn ich mich an den Computer setze. Ihr ständiges Zur-Seite-Rücken störe ich? , ihre Anspruchslosigkeit, ihr Stöhnen und Beschäftigtwerdenwollen … Ich muss mich schützen vor dieser Tageseinsamkeit mit ihr, vor dieser häuslichen Stille. Reden kann ich schlecht mit ihr, sie hört nichts, irgendwie erwartet sie, dass ich neben ihr sitze. Gestern habe ich ihr gesagt, dass ich nicht den ganzen Tag Händchen halten kann, dass ich auch etwas zu tun habe, ich hab sie dann neben meinen Schreibtisch gesetzt, als ich am Computer gearbeitet habe, weil sie mich so hilflos angeschaut hat. Sie ist gedanklich so weit weg, sagt: Großmutter hat auch schon lang nichts von sich hören lassen, sie weint, wo ist denn Tante Mariechen? – was soll ich da sagen? Sie tut mir Leid.

Mutter geht es heute besser. Wir haben ihr ein sehr liebes Zimmer eingerichtet. Heute hat sie das erste Mal gesagt, ich werde mal in mein Zimmer gehen. Vor ein paar Tagen meinte sie: Wieso lebt man eigentlich so lange? Und dann als Antwort: Weil man feige ist. Gestern habe ich ihr neue Stiefel, Nachthemden und eine Mütze gekauft. Sie hat es gerne, wenn man sie beschenkt. Womit habe ich denn das verdient, sagt sie immer. Gar nicht, sage ich ihr dann, und sie muss lachen.

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