Frisör, Flüchtling, Frohnaturtun & lassen

Nermin «Nero» Beharic´ betreibt einen Friseursalon in Ottakring. In der Ausstellung «Nach der Flucht» wirkt er als Zeitzeuge mit und spricht mit dem AUGUSTIN über Zusammengehörigkeitsgefühle, Ausnahmesituationen und F-Wörter.

Interview: Olja Alvir
Foto: Jana Madzigon

Wir erwischen dich gerade nach dem Urlaub. Wie war das Reisen im Ausnahmezustand?
Wir sind dieses Mal, für uns ungewöhnlicherweise, nach Kroatien gefahren, mit allem Drum und Dran: Autopanne, Reisewarnung, Corona-Test. Normal fahren und fliegen wir gern überallhin, es muss nicht immer der Balkan sein. Wir sind nicht so damit verbunden und eher selten in Bosnien. Das letzte Mal waren wir vor drei bis vier Jahren dort. Wir schauen, dass wir alle paar Jahre hinfahren, meiner Tochter zuliebe. Sie soll schon wissen, wo die Wurzeln ihrer Eltern sind. Die wichtigsten Menschen – unsere Geschwister und Eltern – sind aber eh alle da. Damit verschwinden für uns die Gründe, hinzufahren.
Menschen mit Fluchterfahrung können mitunter auch ein schwieriges Verhältnis zum Reisen entwickeln; die Reise als unsicheres Moment.
Für mich hat es genau zum Gegenteil geführt. Als Kind konnte ich mir nie vorstellen, irgendwo anders zu leben als in Bosnien. Durch die Flucht habe ich gesehen, dass – geistige und körperliche – Beweglichkeit auch unter solchen schwierigen Umständen möglich sein kann. Man ist gezwungen, offen zu bleiben, und flexibel. Und man erlebt auch positive Sachen auf der Flucht – Hilfsbereitschaft und Solidarität. Ich war immer ein neugieriger Mensch, auch schon als Kind. Jetzt habe ich zum Glück Möglichkeiten, viele Orte und Situationen kennenzulernen. Ich freue mich, dass meine Familie auch so ist.

Würdest du sagen, du bist im Transit zu Hause?
Wien ist mein Zuhause, da fühl ich mich wirklich daheim, da bin ich am liebsten. Ich bin gern unterwegs, komme aber auch gerne nach Hause zurück. Zum Glück waren die Testergebnisse schnell da und negativ, meine einzige Sorge war, rechtzeitig wieder zur Arbeit zu kommen.
Wie hat sich dein Alltag durch das Coronavirus verändert?
Aus allem, was mir passiert, kitzle ich etwas Positives heraus. Mit COVID war das auch so. Seitdem ich mit 15 Jahren nach Wien gekommen bin, hab ich gearbeitet. Ich war seit 1992 keinen einzigen Tag arbeitslos, und ich habe nie länger als drei Wochen am Stück Pause beziehungsweise Urlaub gemacht. Heuer war es das erste Mal, dass ich sehr lang zu Hause war. Trotz anfänglicher Unsicherheit habe ich die Zeit sehr genossen. Ich hab mich um den Haushalt gekümmert, bin vom Großstadtstress runtergekommen, hab mit meiner Tochter Zeit verbracht. Danach gab es einen großen Ansturm im Salon, und jetzt läuft das Geschäft wieder gut. Wir beachten die Sicherheitsmaßnahmen, versuchen aber sonst, auch im Ausnahmezustand business as usual zu machen. Vielleicht ist diese Einstellung auch so etwas, was Leute mit Kriegs- oder Fluchterfahrung denen voraushaben, die solche Situationen der Ungewissheit und lauernden Gefahr nicht kennen.
Ich habe den Eindruck, dass die Ausnahmesituation Leute, die andere ex­treme Situationen wie Krieg und Flucht erlebt haben, weniger aus der Bahn geworfen hat.
Vielleicht stellt sich mit der Flucht eine gewisse Resilienz ein? Destabilisierung, Ausnahmesituation, Stress: Viele, die schon mal auf der Flucht waren, wissen damit besser umzugehen. Salopp gesagt: «Naja, hab schon Schlimmeres erlebt, ist nicht so tragisch.»

Bei der Ausstellung «Nach der Flucht» wirst du als Zeitzeuge sprechen. «Zeitzeuge» – ein großes, schweres Wort. Wie trägt es sich?
Bei dem Wort denken viele an Zeiten, die gefühlt «eeewig lang her sind»; an den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust. In Wahrheit ist jeder von uns permanent Zeitzeuge, auch bei Dingen mit mehr Leichtigkeit. Ich bin beispielsweise Zeitzeuge der Mode der 80er oder 90er. Ich denke dabei nicht sofort nur an den Jugoslawienkrieg.

Die Vergangenheit sucht dich also nicht heim?
Ich denke immer: Ich kann nur meine Zukunft verändern. Vergangenheit ist passiert, vorbei. Ich glaube aber, die eigene Beziehung zur Vergangenheit, konkret zum Jugoslawienkrieg oder einem anderen Krieg, ist stark davon geprägt, ob man Familie verloren hat. In dem Fall kann man bestimmt nicht so locker darüber reden wie ich gerade, weil es mit viel mehr Schmerz verbunden ist. Meine Eltern und Geschwister haben alles gut überstanden und sind auch jetzt in meiner Nähe, und das sehe ich als großes Glück.

Was war dann deine Motivation, bei einer solchen Ausstellung mitzuwirken?
Mir ging es darum, mehr Verständnis für Flüchtlinge allgemein aufkommen zu lassen. Es ist wichtig, dass Flucht und Flüchtlinge auch positiv dargestellt werden. In den Medien werden Flüchtlinge verunglimpft; Flucht wird mit Kriminalität und Betrug verquickt. Es kursieren Lügen über die vermeintliche Sonderbehandlung von Geflüchteten. Unsinn, den auch Kund_innen bei mir im Salon manchmal wiederkäuen. Da antworte ich dann immer, dass das nicht stimmt und dass ich selbst Flüchtling bin. Diese Gespräche haben mich sicher auch schon die eine oder andere Kundschaft gekostet. Aber vielleicht hat es ein paar Leute auch zum Überdenken angestoßen. Alle Menschen können gute Mitbürger_innen sein, das hat nichts damit zu tun, ob man geflüchtet ist oder nicht.

Mich frustriert in solchen Momenten, dass Rassist_innen mich als «eine von ihnen» zu identifizieren meinen.
Teilweise erlebe ich auch Leute, die vor vielen Jahrzehnten nach Österreich gekommen sind und dann ihre erst kürzlich gekommenen Landsleute schlechtreden. Oder Menschen, die in gebrochenem Deutsch über Zugewanderte lästern. Die Leute glauben, wenn sie über andere schimpfen, sind sie besonders österreichisch. Skurril! Mich macht das sehr traurig. Es dient der Herstellung von Gruppenzugehörigkeit, und solange wir uns nicht darauf einigen können, dass wir alle einer großen, bunten Gruppe angehören, bleibt es schwer mit dem guten Zusammenleben.

Mir gefällt das Konzept vom Frisörsalon nicht nur als Ort, an dem man einen Haarschnitt bekommt, sondern auch als Ort des lockeren Zusammenseins und des Austausches.
Ich liebe meinen Job auch, weil er so viel mit Kommunikation zu tun hat. Zu mir kommen Leute von überall, und viele kennen mich noch aus der Lehrzeit. Einige sehe ich auch als Freunde. Meine allererste Kundin etwa, die damals schwanger war – mittlerweile hat sie drei Kinder –, hat mich zur Hochzeit ihrer Tochter eingeladen. Beim Frisör gibt’s also nicht nur den Haarschnitt – das ist selbstverständlich, da müssen Handwerk und Qualität auch passen –, sondern auch Kontakt zu Menschen. Lockdown und Isolation haben uns gezeigt, wie selbstverständlich diese Art von beiläufigem Kontakt für uns alle eigentlich geworden ist. Erst als er fehlte, merkten wir, wie viel wir tagtäglich mit Leuten kommunizieren, nicht nur mit unseren Liebsten, eben auch auf der Straße, im Geschäft, mit Dienstleister_innen.

Dabei wird der Beruf des Frisörs oft beispielhaft für perspektivenlose «Unterschichtsberufe» genannt; etwas, wo man nur im schlimmsten Fall lande.
Viele haben erst durch COVID-19 gemerkt, wie essentiell der Job ist und dass es sich dabei um alles andere als unqualifizierte Arbeit handelt. Das haben wir spätestens an den vielen komischen Quarantäne-Haarschnitten auf Social Media gesehen! Ich hoffe, mit meiner Arbeit und meinem Leben die dunklen Wolken über diesen beiden F-Wörtern – Frisör und Flüchtling – etwas zu vertreiben.

Ansichtssache
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