Frühstücken und glücklich seintun & lassen

Augustin-Verkäuferin Annemarie Stöger unerwartet gestorben

«Auf meiner Facebook-Seite fand ich heute einen Spruch: Ich wünschte, dass der Himmel ein Telefon hätte, so könnte ich deine Stimme immer hören», erzählt uns Maria Kratky, Augustinverkäufern. Tränen gleiten die Wangen hinab. Die Stimme, die sie vermisst – und immer vermissen wird, weil dort oben Telefonmangel herrscht – ist die Stimme Annemarie Stögers. Ein Nachruf von Robert Sommer.

Foto: Mehmet Emir

Noch hat Maria , die Ur-Wienerin im Augustin-Milieu, Annemaries Wörter im Ohr. Zum Teil sind es Wörter, die es auch in Wien gibt, aber aus dem Munde Annemaries klangen sie wie dreitausend Meter oberhalb der Latschengrenze ausgesprochen. Maria muss ihren Mund verzerren, um einen tirolerischen Sound zu imitieren: SPCKCKCKNÖDL. Was für die Wiener_innen cool ist, war für die aus Wörgl in Tirol stammende Augustin-Legende «bärig», sagt Maria, ihre letzte Unterkunftsgeberin. Dicke Freundinnen geworden (vor allem der gemeinsame Job als Augustinkolporteurinnen schweißte sie zusammen), wurden sie langsam mit den sprachlichen Eigenarten der jeweils Anderen vertraut. Annemarie wusste, was es bedeutete, wenn Maria nach dem Aufstehen ankündigte: «I geh mi renoviern». Maria wusste, dass es dasselbe bedeutete, wenn Annemarie bekanntgab: «I geh mi owiwaschln.»

Unerwartet ist Annemarie Stöger, 59 Jahre alt, in Tirol gestorben. In den letzten Jahren hatte sie abwechselnd in Wörgl, in der Nähe ihrer beiden Töchter, und in Wien gelebt. Zwei Wochen Wien, zwei Wochen Tirol, so ungefähr war ihr Lebensrhythmus. In Wien lebte sie als Gast oder als Untermieterin bei Ihresgleichen – Menschen, die aus welchen Gründen auch immer in die Armutszone abgerutscht waren. Annemaries Erfahrungen in diesen «Wohngemeinschaften», deren «Oberhäuptern» das Prinzip der gleichen Augenhöhe meist unbekannt war, stimmten nicht mit ihren Wünschen überein. Annemarie Stöger fühlte sich oft ausgenutzt: da allgemein bekannt war, dass sie zu den erfolgreichsten Augustin-Verkäufer_innen zählte, wurde allgemein erwartet: «Die Annemarie ist bei Kasse – man kann sie anpumpen!»

Sie ließ sich oft anpumpen, aber manchmal kam das Geld nicht mehr zurück. Und gelegentlich wurde sich auch bestohlen. Diese Enttäuschungen waren wie weggeblasen, als sie ihr Wiener Domizil in der Wohnung Marias aufschlagen konnte. Die hatte seit dem Tod ihres Mannes, der Augustin-Stimmgewitter-Legende Hans Kratky, freien Platz in ihrer Wohnung. Die langgezogenen gemeinsamen Frühstücke mit ihrer Freundin aus Tirol kamen dem, was man glückliches Leben nennen kann, schon ziemlich nahe, meint Maria. Die Umstände des Augustin-Verkaufs standen im Mittelpunkt dieses permanenten Austausches. Maria und Annemarie verstanden sich auf diesem Feld bestens, hatten sie doch dieselbe «Arbeitsethik» und denselben Grad der Identifikation mit dem Augustin-Gesamtprojekt entwickelt.

Maria versuchte das so zu erklären: «Wir waren uns einig darin, unseren Kunden nicht lästig zu fallen. Zum Beispiel war unser Grundsatz: Sprich keinen an, der gerade isst. Wenn du durch ein Lokal gehst, biete nur jenen den Augustin an, die nicht essen, sondern nur trinken. Wir gingen da von uns aus: wir wollen ja auch nicht, dass uns jemand aus dem Essen reißt. Natürlich, wenn einer grad beim Mittagessen war und einer von uns zurief, bitte den Augustin, brachten wir ihm gern die Zeitung.» Laut Maria übertraf ihre Freundin sämtliche Kolleginnen und Kollegen beim Augustin, was die Intensität ihrer Arbeit betraf. «Sie hat oft, glaube ich, zwölf Stunden pro Tag verkauft. Das Museumsquartier und der Naschmarkt waren

ihre Schwerpunkt-Rayons».

Die Tirolerin fand alles «bärig», was mit dem Augustin zu tun hatte. Wie selbstverständlich war sie an allen Aktionen gegen die Entrechtung der Marginalisierten dabei, an allen «populären Provokationen», mit denen das Augustin-Team zusammen mit anderen Engagierten die Aufmerksamkeit auf den «Krieg gegen die Armen» richten wollten. Sie wurde früh Mitglied des Augustin-Schauspielensembles «11% K.Theater», für welches sie zum Schluss die Rolle der Magd Resl in Turrinis «Sauschlachten» übernommen hatte. Die Würdigung des Ensembles durch den bei der Premiere persönlich anwesenden Dichter muss sie wohl als größten Akt der Anerkennung in ihrem Leben empfunden haben. Der Tod ließ Annemarie keine Zeit mehr, um an ihr selbst zu beobachten, wie sehr sie die Resl-Rolle der Untergebenen im wirklichen Leben hinter sich lassen konnte durch ihre vielseitigen Empowerment-Projekte beim Augustin.

Annemarie Stöger war bärig. Es wird nicht ausbleiben, dass Menschen beim Augustin anrufen, um eine Kritik loszuwerden. Es wird eine Art von Kritik sein, zu der den Augustin-Sozialarbeiter_innen wenig «Entlastendes» einfallen wird. Die Kritik wird lauten: Warum schickt ihr eure Verkäuferin aus Tirol nicht mehr ins Gei?

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