Man kann Bettelnde mit den Augen des Sheriffs oder eines Menschen betrachten
Noch sind in Wien zwei grundsätzliche Verhaltensweisen gegenüber den Armutspendler_innen aus dem Osten anzutreffen: auf der einen Seite eine trotz aller Sündenbockkonstruktionen bewahrte Menschlichkeit, anderseits eine einseitige Wahrnehmung dieser Menschen aus dem Blickwinkel der Security.Die ECR Austria – das Kürzel steht für Efficient Consumer Response – ist eine Art Lobbyorganisation für Handelskonzerne und Konsumgüter-Hersteller. Rund hundert Unternehmen nehmen an ECR teil – darunter Handelsgrößen wie REWE (Billa), Spar, Hofer, Baumax u. s. w. Eine der ECR-Arbeitsgruppen ist die AG Sicherheit im Handel. Deren Mitglieder sehen großen Handlungsbedarf, weil sie eine Verschärfung der Sicherheitsprobleme feststellen.
Spontan wird man bereit sein, dieser Diagnose zuzustimmen: Erstens tangiert die kapitalistische Krise auch den Einzelhandel. Die massive Übernahme der staatlichen Handelsbetriebe im ehemaligen Ostblock zu Schleuderpreisen durch Rewe und Co. rächt sich nun: Die Kaufkraft sinkt so, dass immer mehr Waren unkonsumierbar werden. Im derzeitigen bulgarischen Volksaufstand ist das niederösterreichische Energieversorgungsunternehmen EVN zum Logo der Ausplünderung der Gesellschaft geworden. Wo dieses Logo bemerkt wird, besteht Abfackelungsgefahr. Wie EVN könnte es auch bald der Marke Billa gehen, die in Rumäniens Einzelhandel einen Marktanteil von 10 Prozent hat; die Menschen könnten Billa-allergisch werden, weil die Preise in den Billa-Supermärkten zum Teil höher sind als in Österreich, obwohl ein Facharbeiter nicht 1500 Euro, sondern 200 Euro verdient. Zweitens könnte ein neues Nahrungsmittelbewusstsein der Konsument_innen zunehmend riskant für die Handelsketten werden, die zugunsten der Kooperation mit Agrarfabriken immer weniger auf bäuerliche Produkte setzen.
Aber nein, nicht diese potentiellen existenziellen Krisen meint die Arbeitsgruppe. Sie ist gebildet worden, weil sich die Kund_innen, die Verkäufer_innen und die Geschäftsleitungen angesichts der steigenden Zahl von Bettler_innen und Zeitungsvefkäufer_innen vor den Filialen «nicht mehr zu helfen wissen». Ziel der Arbeitsgruppe: die Ausarbeitung einer praxistauglichen standardisierten Empfehlung für den Umgang mit Bettelnden und Straßenzeitungsleuten vor den Geschäften.
Keine Kooperation im Zeichen der Security-Ideologie
Die Sozialsprecherin der Wiener Grünen, Birgit Hebein, sieht in der Teilnahme an der Arbeitsgruppe der Einzelhandelsunternehmen eine Chance, die Willkür, mit der speziell Armutsbetroffene aus osteuropäischen Ländern zu Kriminellen erklärt werden, und die überdimensionierten Polizeieinsätze gegen diese «Unerwünschten» aus der Welt zu schaffen. NGOs wie die BettelLobbyWien und Straßenzeitungen wie der Augustin könnten, so schlug Hebein vor, Sensibilisierungsseminare für Filialleiter, Securitys und Handelsangestellte anbieten. Eine gemeinsame Beratung ergab, dass sowohl die BettelLobbyWien als auch der Augustin einer Teilnahme an der ECR-Arbeitsgruppe ablehnend gegenüber stehen – nicht zuletzt aufgrund der unannehmbaren Prämisse der Arbeitsgruppe, Straßenzeitungsverkäufer_innen vor den Geschäften aus der Perspektive der durch sie bedrohten Sicherheit zu betrachten.
Der Augustin wies in der Beratung auf die Bringschuld des Einzelhandels hin. Aufgrund der Positionen, die er z. B. in der vom ihm durchdrungenen Ökonomie Rumäniens hat (siehe oben), ist er mitverantwortlich für eine postkommunistische Realität, aus der sich Tausende nicht anders retten können, als in die reichen Städte des Westens zu kommen und dort zu betteln – etwa vor den Eingängen von Billa-Märkten. Nirgendwo in Europa ist die Diskrepanz zwischen Lohn- und Preisniveau so groß wie in Rumänien. Fast 50 Prozent ihres Einkommens geben die Rumän_innen für Nahrungsmittel aus. Brot, Milch, Gemüse, Äpfel, Fleisch – die wichtigsten Grundnahrungsmittel sind in den rumänischen Billa-Geschäften teurer als in den österreichischen. Augustin-Verkäufer_innen erzählen, dass sie Fleisch in Wiener Hofer-Flialen kaufen, um es zu ihren Familien in Rumänien zu bringen. Viele Rumän_innen kaufen im Nachbarland Serbien ein, weil die Lebensmittel dort um bis zu 50 Prozent billiger sind. Die Billa-Orientierung auf Waren der Agrarindustrie auf Kosten der Produkte der Kleinbäuer_innen des Landes trägt zu einem rascheren Tempo des Bauernsterbens in Rumänien bei.
Die Kleinbäuer_innen kommen freilich nicht nur durch Billa und Co unter die Räder, sondern auch durch die EU-Kommission. Sie hat kürzlich den Entwurf zur Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) ab 2014 vorgestellt. Kleinbauern sollen eine Ausstiegsprämie erhalten, wenn sie dauerhaft auf Prämienzahlungen verzichten und ihre Flächen freigeben. Damit soll nach Angaben der Kommission vor allem in Osteuropa ein Strukturwandel in der Landwirtschaft vorangetrieben werden. Kleinstbauern – vor allem in Polen und Rumänien – sollten so ermuntert werden, aus der Landwirtschaft auszusteigen, um die Bildung größerer Agrarunternehmen zu ermöglichen. In Rumänien gibt es derzeit etwa 3,5 Millionen Agrarbetriebe. Das alles wird noch mehr Rumän_innen in den Westen treiben, wo sie – Opfer einer europäischen Politik der Zerstörung jeglicher Sicherheit – paradoxerweise zu Unsicherheitsfaktor Nr. 1 erklärt werden.
Die Aufregung des Handels über das durch osteuropäische Armutspendler_innen verkörperte «Sicherheitsrisiko» erscheint umso inszenierter, wenn man bedenkt, dass Österreich nur einen kleinen Teil der Enttäuschten abbekommt. In Bulgarien, seit 2007 EU-Mitglied, ist die Auswanderung so dramatisch, dass die Bevölkerung von 8,15 Millionen (2001) auf 7,33 Millionen (2011) geschrumpft ist. Auch Rumänien ist seit 2007 in der EU. Das erleichterte die Auswanderung. Es wird geschätzt, dass derzeit dreieinhalb Millonen Rumän_innen im Ausland arbeiten oder durch informelle Tätigkeiten überleben. Diesen Hintergrund muss seriöserweise mitbedenken, wer die hundert rumänischen Augustinverkäufer_innen in Wien – und die 50, die vor den in der ECR vereinigten Geschäften stehen – zum Thema macht …