Fußball und Festwochenvorstadt

Der Fußballverein 1210 Wien will vieles anders machen und doch alle abholen, von den Kids aus dem Jedlersdorfer «Ghetto» bis hin zum Festwochen-Publikum. Nach knapp drei Jahren kann man sagen: Es scheint zu klappen.

TEXT: HANNES GAISBERGER
FOTOS: CAROLINA FRANK

Floridsdorf ist ein toller Bezirk. 1210 war für eine Handvoll Jahre auch meine Postleitzahl und ich hege schöne Erinnerungen an die transdanubische Zeit. Der Einundzwanzigste spielt viele Stückeln, ob Donauufer oder Stammersdorfer Kellergasse. Was es damals nicht gespielt hat, war Kulturgenuss jenseits der Boulevard-Komödien im Gloria-Theater. Doch auch diese Durststrecke soll nun vorbei sein, geht es nach dem Paar Katharina Pizzera und Vinzenz Jager. Sie haben im Herbst 2019 den Nord-Wien-Platz übernommen und ihn seither zum Experimentierfeld für Kulturformate und sportliche Konzepte gemacht. Gute Neuigkeiten für eine Gegend, die in den Medien zuletzt mehr durch schwere Böllerunfälle und randalierende Halbstarke präsent war. Große Wohnhausanlagen wie der Dr.-Franz-Koch-Hof (im Volksmund Lego-Bauten oder Manhattan genannt) oder der Heinz-Nittel-Hof (aka Marco Polo) prägen das Bild und mögen das Herz von Architektur-Fans höherschlagen lassen, aber die wohnen in der Regel auch nicht hier.

Weite, offene Felder bespielen.

Katharina Pizzera ist ausgebildete Schauspielerin, Musikerin und die Obfrau von 1210 Wien. Sie zeichnet für das Kulturangebot des Vereins verantwortlich – und konnte dem Augustin nur schriftlich Rede und Antwort stehen. «Das hat sich langsam entwickelt. Die tatsächliche Umsetzung kultureller Veranstaltungen gibt es seit Juli letzten Jahres. Begonnen haben wir mit einer kleinen Instagram-Reihe unserer ‹Kantinengespräche› ». Diese Filmreihe stellt Personen in den Mittelpunkt, die im Hintergrund für das alltägliche Funktionieren der Zwoelfzehner ­sorgen. «Das werden wir auch weiterführen. Parallel dazu haben wir fortlaufende Formate kreiert, ‹Kantinenkonzerte›, ‹Kantinenlesungen› oder die ‹Heimspielkonzerte› ». Erster Konzertant war niemand geringerer als Austrofred, der im Anschluss an den letztjährigen Scheiberlcup in gewohntem Maße Gas gegeben hat.

Berührungsängste.

Können sich die angefragten Kulturschaffenden immer gleich vorstellen, auf einem Fußballplatz zu performen? «Da gibt es manchmal schon Bedenken. Wenn sie den Platz und unser Konzept kennengelernt haben, haben sie meist Lust bekommen, ein Projekt in dieser Atmosphäre – den weiten, offenen Feldern – zu machen. Die größere Herausforderung sehe ich sicher darin, Fußballkids für Kultur zu interessieren.» Naheliegende Angebote wie Konzerte oder Hip-Hop-Workshops stellen kaum ein Problem dar, doch man will sich nicht limitieren lassen, so Pizzera. «Wir sind offen für unterschiedlichste Formate. Konfrontativ zu sein, finde ich dabei auch explizit wünschenswert. Die Menschen in unserem Verein und um ihn herum sollen aber immer miteinbezogen werden. Ob das dann auch mal hochgestochener ist, spielt für mich nicht so eine große Rolle. Hauptsache, die Kunst wird gesehen! Wer auch nur kurz verweilt, wird das Gesehene automatisch reflektieren und sich eine Meinung bilden.»

Keine abgespacte Bobo-Scheiße.

Niederschwellig und cool sollen die Angebote sein, wie zuletzt das Rollenspiel MEN/SCHEN/MAR/KT des Grazer Theater im Bahnhof. Vinzenz Jager, Klubmanager und sozusagen sportlicher Leiter von 1210, kennt die Vorbehalte gegenüber Theater oder Performance. «Das stellen sich viele als abgespacte Bobo-Scheiße vor. Aber das war aufgezogen wie ein Spiel, intelligent und witzig gemacht. Man konnte sich den sozialen Aufstieg erspielen und etwas gewinnen. Ein partizipativer Zugang ist wichtig, die Sachen finden parallel zum Spielbetrieb statt. Die Kinder müssen nicht extra vorbeikommen, sondern werden einfach am Rande ihrer sportlichen Betätigung damit konfrontiert.» So wird das auch bei den kommenden Events im Juni sein, die den Nord-Wien-Platz, der jetzt eigentlich 1210er-Platz heißt und den Status eines kulturellen Anker­zentrums hat, ins Programmheft größerer Festivals schreiben.
Im Rahmen der Wiener Festwochen wird der libanesische Klangkünstler ­Tarek Atoui zwei Gastspiele geben, am 6. Juni mit einem Hip-Hop-Workshop und am 10. Juni mit einem Sound-Picknick. Eigens für diesen Anlass gebaute Instrumente und ein Gehörlosenchor versprechen ein besonderes Musik­erlebnis, ein Hobbyturnier sorgt für den sportlichen Rahmen. Das Wir-sind-Wien-Festival bringt die Dialekt-Rapper Kreiml & Samurai am 21. Juni in den Einundzwanzigsten, ebenfalls begleitet von einem Fußballturnier und alles bei freiem Eintritt.

Sie können auch anders.

Sport und Kunst gehören bei ihrem Verein einfach zusammen, findet das sportliche Mastermind Vinzenz Jager. «Das ist ja quasi unser Alleinstellungsmerkmal.» Fußball gespielt wird aber schon, und das nicht mit quadratischen Bällen auf achteckige Tore. Wo liegt dann die sportliche Andersartigkeit? «Mit den Fußballcamps und -kursen Football School bin ich schon länger im Nachwuchsbereich tätig. Wenn mich Eltern gefragt haben, zu welchem Verein sie ihre Kinder schicken können, konnte ich eigentlich nie mit ruhigem Gewissen Empfehlungen aussprechen. Die wenigsten Klubs haben eine stringente Nachwuchsstruktur, alles ist von der Kompetenz der einzelnen Trainer abhängig.» Oftmals sind dies Eltern ohne Ausbildung, die ehrenamtlich aushelfen, denn das meist knappe Geld fließt vorrangig in die Kampfmannschaft. «Bei uns ist hingegen der Jugendleiter hauptberuflich angestellt, drei weitere Stellen sollen dazukommen. Das ist schon unser Anspruch, dass ein Nachwuchstrainer bestimmte Qualitätskriterien erfüllen muss.» Dafür spielt die erste in der zweiten Landesliga ohne Budget.
Jager hat eine ganze Latte Trainer­lizenzen und war schon bei mehreren Vereinen und Verbänden tätig. Aber immer wieder habe es geheißen, dass etwas nicht geht. Nun will man zeigen, was doch alles geht. Nicht jedes Kind wird ein Profi und muss deshalb ab sechs Jahren dreimal die ­Woche trainieren. Deshalb wird auch ein «Light»-Angebot geschaffen, mit einem Training und ­einem Spiel pro Woche. Mädchenfußball sei natürlich auch ein Thema, da Wiens größter Frauenfußballverein Landhaus nur einen Steinwurf entfernt seinen Platz hat und man in den ersten Jahren allgemein viel aufbauen musste, bittet Jager hier um etwas Geduld. Ein Special-Needs-Team – «da suchen wir noch nach einem Namen, eigentlich wollen wir das nicht so nennen» – nimmt hingegen gerade das Training auf. «Das ist uns wichtig, wir wollen nicht nur niederschwellig und cool, sondern auch inklusiv sein.» Vielleicht sei der Anteil von Kindern mit bürgerlichem Hintergrund durch das kulturelle Angebot minimal gestiegen, der Großteil komme aber von hier, von Manhattan und Marco Polo, ­Kooperationen mit Volksschulen und Kindergärten oder Kids der Football School.
Es ist schön zu sehen, dass sich etwas bewegt in Floridsdorf, etwas Neues entsteht und Kindern vor ihrer Haustür ein Angebot gemacht wird, dass sie so sonst nicht kriegen. Trotzdem ist 1210 zuerst ein normaler Fußballklub, der zwar einen Gemeinschaftsgarten hat, wo man sich in der Kantine aber auch Wurstsemmel und Limo oder Bier kaufen kann. Und die Kunst gibt es obendrauf. 

www.zwoelfzehn.at
www.footballschool.at

Bild: Bei 1210 Wien fürs Sportliche verantwortlich ist Vinzenz Jager