«Gebannt zugehört»vorstadt

Lokalmatador

Gert Dressel moderiert Gespräche mit älteren Menschen und sammelt dabei viel Erfahrung. Von Uwe Mauch (Text) und Mario Lang (Foto).

Eine ältere Dame mit blondierten Haaren erzählt hinreißend, wie das so war, als sie jung und ein Model war: Perücken habe sie getragen, um attraktiver zu wirken. Der Moderator des Erzählcafés im Wien Museum hört aufmerksam zu. Mit wenigen geschickten Zwischenfragen verhilft er der auch im Alter Schönen, ihren roten Faden zu behalten. Dann bindet er andere Teilnehmer_innen aus der 50-köpfigen Gesprächsrunde in die Unterhaltung ein.

«Das habe ich im Laufe der Jahre gelernt», wird Gert Dressel später auf die Frage antworten, wie er die Spannung des Gesprächs zwei Stunden lang hochhalten konnte. Der Lauf der Jahre reicht weit zurück.

Seine Geschichte.

Es waren die spektakulär unspektakulären Erzählungen seiner Mutter, die in ihm früh das Interesse an der anderen, der Geschichte von unten geweckt haben. «Meine Mutter ist Jahrgang 1930», beginnt Dressel seine eigene Erzählung. Meist ist er der Zuhörer, der Fragensteller. Heute in seinem Büro, das viel Arbeit verrät, stellen andere die Fragen.

War seine Mutter böse Nationalsozialistin oder im Widerstand aktiv? Weder noch, der gelernte Historiker schüttelt den Kopf. «Aber wenn sie erzählt hat, wie sie mit 15 die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs miterlebt hat, wie die Front an ihr Dorf heranrückte, wie sie im Luftschutz-Stollen fast erstickt wäre und wie gleichaltrige Burschen von den Nazis hingerichtet wurden, weil sie sich nicht mehr im Krieg verheizen lassen wollten, dann habe ich gebannt zugehört. Ich war so alt wie sie damals. Heute weiß ich, dass ihr das Erzählen gut tat.»

Erzählen, ein Gewinn für alle: Die, die erzählen, können etwas loswerden, was sie vielleicht schon länger loswerden wollten. Die, die zuhören, können etwas erfahren, was sie vielleicht so nicht erwartet hatten. «Über die Geschichten entstehen Beziehungen», erklärt Gert Dressel. Sich gegenseitig zu erzählen und zuzuhören, kann eine Gruppe einen.

Hunderte Gesprächsrunden hat der 54-Jährige moderiert. Nicht nur im Wien Museum, auch in Wohnhäusern für Senior_innen, in Schulen mit jungen und älteren Menschen oder in der Fortbildung unterschiedlicher Berufsgruppen, die alle nah am Menschen dran sind.

«Ich möchte den Älteren eine Stimme geben», so Dressel. «Damit ihr Gesicht Konturen bekommen kann.» Und dann setzt er zum vielleicht schönsten Satz in unserem Gespräch an: «Es geht darum, dass durch das Erzählen und Zuhören Unterschiede akzeptabel werden.»

Der Moderator der Unterschiede hat sein Büro am Institut für Palliative Care und Organistationsethik der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, die in der Schottenfeldgasse eine Außenstelle unterhält. Er ist kein Kärntner, er ist ein «Piefke in Wien», wie er selbst sagt. Weil er genau weiß: Sagt er es nicht, wird er von anderen auf diese hörbare Feinheit angesprochen.

Sein Weg nach Wien führt über mehrere Stationen: Aufgewachsen ist Gert Dressel noch im geteilten Deutschland, in Siegen, um genau zu sein, «einer verschlafenen Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen». Nach dem Abitur geht er wie so viele seiner Generation nach West-Berlin, wo es schon Döner und Hausbesetzungen gab, aber noch die Mauer zur DDR war.

So wie seine Frau, mit der er in Siegen maturiert hat, blieb er dann «in Wien hängen». Was grundsätzlich für Wien spricht: Die Eltern zweier Söhne wollten «eigentlich nach Frankreich», fühlen sich jedoch heute «in Wien zu Hause».

Wien sei damals für einen jungen Historiker viel interessanter gewesen als die Freie Universität Berlin. Erinnert sich der «Biografiearbeiter». Damals, 1986: Eben war die Diskussion über die SA-Vergangenheit des Bundespräsidenten entbrannt, am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte hatte man mit der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen begonnen.

Und die Student_innen des Instituts für Zeitgeschichte reimten die ­Krone und ihre Kolumnisten buchstäblich in den Wind: in einer langen Sonntagsnacht bereicherten sie die Verkaufstaschen der Zeitung mit einer selbst kopierten «Beilage», die folgende Schlagzeile enthielt: «Jetzt reicht es! Österreicher beißt Afghanen!»

Anfangs ein Misserfolg.

Das erste Erzählcafé, das Gert Dressel mitinitiiert hat, fand in Hernals statt. Und es sollte ein Misserfolg werden. Gibt der Erzähler ehrlich zu. «Weil wir den Leuten erklärt haben, was wir schon wissen, anstatt sie zu fragen, was sie alles wissen.» Doch Fehler sind dazu da, um aus ihnen zu lernen.

In einem Pensionist_innen-Wohnhaus in Ottakring gelang schon wenig später das Wunderbare. Gert Dressel erinnert sich, als wär’s gestern gewesen: «Durch die Erzählungen der anderen Bewohner_innen dämmerte es einer Teilnehmerin.» Sie war Jüdin, und sie hatte anfangs betont: «Und wenn sie mich erschlagen, ich habe zur Zeit zwischen 1938 und 1945 keine Erinnerung.»

Die Gruppe gab ihr Sicherheit. Plötzlich kam ihr das KZ in den Sinn. Sie war vor einer Baracke gesessen, vor Weihnachten, als SS-Männer abgenagte Knochen vor die Häftlinge warfen und deuteten: «Euer Weihnachtsgeschenk.» Zur Freundin habe sie gesagt, dass sie «das» sicher nicht annehmen werde. Gänsehaut, wie so oft, wenn Gert Dressel von seinen Erzählcafés erzählt.