Gefängnisse abschaffen?tun & lassen

Leider kein Koalitionsverhandlungsthema

„Ohne Gefängnis – eine Utopie?“ fragen die Referenten einer Publikumsdiskussion in der Passage-Galerie des Künstlerhauses, und Robert Sommer vom Augustin moderiert. Das Thema scheint in Zeiten explodierender Häftlingszahlen out zu sein, dennoch füllt sich der Ausstellungssraum. Jedenfalls gehen den VeranstalterInnen des Events die Sitzgelegenheiten aus, und die Diskussion verläuft vom Start weg so angeregt, dass sie selbst kaum zu Wort kommen.Beate Göbel ist die Initiatorin und Leiterin des nun schon dreijährigen Kunstprojekts „Wir_hier“, das diese ganze beachtliche Zeitspanne hindurch eine Alternative zum bloßen Weggesperrtsein artikuliert. Hinter den Mauern und Eisentüren der Justizanstalt Favoriten haben Frauen gezeigt, dass man in den Ausdrucksformen der Kunst nicht nur zu Wort sondern auch zu Tanz, zu körpersprachlichem Vortrag, zu Bild, zu Farbe und Film kommen kann. Auch während der Diskussion ist die geschlossene Reihe ihrer Körper und Mienen beredt und nimmt schweigend Einfluss aufs Geschehen. Sie sitzen unter den von ihnen verfertigten Gemälden, sitzen zu Bilde und stehen zu ihren sichtbaren Botschaften. Und sie lauschen nach draußen, aufmerksam, konzentriert, denn noch während des Events müssen sie wieder „hinein“, zurück in ihr Zwangsobdach, aus dem sie sich eine Passage zur Außenwelt ermalt, ertanzt, erschrieben und erspielt haben.

Ihnen zur Seite haben die Referenten Univ. Doz. Dr. Arno Pilgram und Konfliktforscher und -regler Dr. Eduard Watzke Platz genommen. Univ. Doz. Dr. Pilgram ist als stellvertretender Leiter des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie und darüber hinaus durch eine Flut anderer Funktionen, Lehrtätigkeiten und Publikationen im Dienste des sozialen Friedens weithin bekannt. Ebenso bekannt ist der Therapeut und Mediator Dr. Eduard Watzke, der zuerst referiert. Seit 15 Jahren ist er als Mediator im Umfeld des Strafvollzugs, respektive dessen erfolgreicher Abwendung tätig. Divers heißt verschieden, Diversion ist also der andere, der von der Gefängnisstrafe verschiedene Umgang mit Rechtsbrechern. Wie sehen diese Alternativen zum Gefängnis aus?

„Ponopono“ oder die Reharmonisierung

Nun, man kann eine Geldstrafe zahlen statt zu sitzen, man kann eine gewisse Anzahl von Stunden ehrenamtlich einen Kinderspielplatz beaufsichtigen oder sonst etwas im Dienste der Allgemeinheit tun, um seine Strafe zu vermeiden. Ist „Sitzen“ bequemer? Manchmal vielleicht schon, aber mit der Diversion vermeidet man den Status des Vorbestraften. Eine andere Variante der Diversion ist die Probezeit mit Regelungen. Das darf man nicht mit bedingter Haftstrafe verwechseln. Es bedeutet, dass man sich einer regelmäßigen Supervision, begleitet von bestimmten Auflagen unterzieht. Zum Beispiel einem Antiaggressionstraining. Und schließlich gibt es eben den so genannten ATA, den Außergerichtlichen Tatausgleich, bei dem Opfer und TäterIn mit Hilfe eines Mediators/einer Mediatorin einen Versöhnungsmodus finden. In seiner 15-jährigen Praxis fast immer ein Gewinn für beide, betont Dr. Watzke.

Ist eine Gesellschaft ohne Gefängnis denkbar? Dr. Watzke führt den pazifischen Raum und Teile Australiens an, wo es Regionen gibt, in denen zwischen Rechtssprechung nach anglo-amerikanischem Modus und „Ponopono“ gewählt werden kann. Ursprünglich heißt das Wort Oh-oponopono. Es kommt aus dem hawaianischen Sprach- und Kulturschatz und lässt sich am ehesten mit „Reharmonisierung“ in unsere Begriffssphäre übersetzen. Begeht ein Mitglied der Gemeinschaft ein Verbrechen, macht das ganze Dorf sich dafür verantwortlich. Die Dorfgemeinschaft tritt zusammen, ein Rat von Weisen, angeleitet von einem Zeremonienmeister, befasst sich eingehend mit der Aufklärung von Ursache und Hergang des Vorfalls. Ziel ist die Wiederherstellung des sozialen Friedens. Methode (um in unserem Jargon zu sprechen) ist die intensive Anhörung aller, auch der am entferntesten betroffenen Personen. Das beginnt mit der Anhörung des Opfers, dann des Täters, und reicht hin bis zu den Eltern, Verwandten und Mentoren auf dem gesamten Erziehungs- und Entwicklungsweg und dem Durchforschen ihrer Einflüsse. Jeder ist gefordert, die Frage: Was habe ich unterlassen, dass diese Tat begangen wurde? zu beantworten. Begüterte erforschen ihren Umgang mit ihrer materiellen Besserstellung als möglicher Mitursache für das Unfriedensereignis.

90 Prozent der inhaftierten Täter keine bedrohlichen Charaktere

Wäre so ein Modell in unserer Gesellschaft denkbar? Immerhin, es ist an sehr fernen Punkten dieser Erde noch (!) Realität. Und immerhin: eine Parallele lässt sich ziehen. Soziale Gegebenheiten und Kriminalität hängen auch bei uns eng zusammen. Etwa 90 Prozent aller in Österreich inhaftierten Täter sind keine bedrohlichen Charaktere. Viele von ihnen haben Eigentumsdelikte aus sozialer Not begangen oder Gesetze gebrochen, deren Einhaltung ihnen durch ihre soziale Stellung erschwert oder unmöglich gemacht wurde. Dazu kommt die Migrationsproblematik. Etwa 50 Prozent der InsassInnen sind Nichtösterreicher.

Hier knüpft Univ. Doz. Dr. Pilgram an. Zu seinen zahllosen Aktivitäten zählt auch seine Funktion in der „Kriminalpolitischen Initiative“. Dieser Zusammenschluss von sieben engagierten Juristen ist aus dem massiven Einwand gegen die Errichtung einer weiteren Monster-Justizanstalt entstanden. Auf hohem wissenschaftlichem Niveau und gleichzeitig mit der Praxis wirklich „gestandener“ Rechtsexperten durchforstet man den Strafkatalog auf der Suche nach sinnvollen und durchsetzbaren Alternativen zu bestehenden Ungereimtheiten. Pilgram selbst erweist sich dabei seit vielen Jahren als unermüdlicher Autor und Dialogsuchender, weist in akribischen Recherchen Zusammenhänge zwischen ökonomischen, sozialen, politischen Gegebenheiten und sichtbarer Kriminalität nach. Das derzeitige Ansteigen der Haftzahlen ist nicht Schicksal. Ende der 80er Jahre funktionierte die Sozialpartnerschaft noch, und: 1987 war die Kriminalität auf einem Tiefststand! Derzeit bringen Verunsicherung auf dem Arbeitsmarkt und unbewältigte Migrationsprobleme Phänomene wie Armut und die notgeborene Delinquenz krimineller Asylwerber hervor. Haftzahlen sind ein Spiegel der Gesellschaft, aber nicht nur. Sie sind auch ein Produkt ihres Rechtssystems. So sind nach den Rechtsreformen der 90er Jahre die Haftzahlen um ein Drittel (!) gesunken.

Kann man mit der Kriminalpolitischen Initiative Pferde stehlen? Pilgram pfeift uns nicht in die Realität zurück, er versucht, uns in die Realität zurückzulächeln. So einfach ist der Pferdediebstahl nicht. Einmal deshalb, weil Konsens oft unerwartet schwer zu orten ist. Auch Gruppen, die sich eine moderne, human agierende Gesellschaft wünschen, entdecken plötzlich ein Feindbild, das sie dann doch hart bestraft wissen wollen – Ökosünder, Sexualtäter, Tierquäler … Zum andern, weil auch die Alternativen zur Haftstrafe genau abgewogen werden müssen. Sind lebenslange Supervision oder pharmazeutische Zwangsjacke wirklich eine bessere Lösung?

Haben andere Länder besseren Umgang mit ihrem Strafrecht? Das kann man nicht so pauschal beantworten. Die bedingte Entlassung ist allerdings – im Unterschied zur hiesigen Praxis – in vielen Ländern die Regel.

Gibt es Juristen, die sich dafür einsetzen, in besonderen Fällen das Vorstrafenregister nicht so hoch zu bewerten, wie das jetzt der Fall ist? Wieder lächelt Meister Pilgram. Die Justiz ist ein sehr heterogenes Gebilde. Bestimmt gibt es auch Vertreter dieser Idee.

Da sich kein Antagonist findet, sondern alle Anwesenden in Gefängnisstrafen kein Besserungsmittel und keinen Weg in den sozialen Frieden sehen, droht die Diskussion in die Artikulation der jeweils eigenen Lieblingsthemen zu zerfallen. Bevor das aber geschieht, entschließt man sich zur Schlussrunde. Den Veranstalterinnen – wir_hier und Augustin – ist für die Dialogmöglichkeit zu danken, die sie mit ihrer Beherztheit und Kreativität geschaffen haben, den Referenden für ihre Infos und ihren aktiven Einsatz für eine höchst notwendige Utopie.

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