Gefängniszeitung abgewürgttun & lassen

Sie plädierte für die Abschaffung des menschenrechtswidrigen «Maßnahmevollzugs»

Die einzige Kommunikationsplattform des heikelsten Justizbereichs darf nicht erscheinen. Die «Blickpunkte», die Zeitschrift der Justizanstalt Mittersteig, kann seit Wochen und auf unbestimmte Zeit nicht mehr produziert werden. Man hat sämtliche Computer des betroffenen Anstaltsbereichs «zur Überprüfung» eingezogen, und der Zeitpunkt dieser Überprüfung legt nahe, dass die Gedankenfreiheit, die Friedrich Schiller vor mehr als 200 Jahren gefordert hat, Teilen des österreichischen Justizapparats anscheinend immer noch zu gefährlich ist.Gedanken sind Sprengstoff, sobald sie zu Papier gebracht werden oder durch andere Medien auch nur eine kleine, sensible Öffentlichkeit erreichen. Anders ist diese Blockade der «Blickpunkte» aus «untersuchungstechnischen Gründen» nicht zu erklären. Sie erfolgte sehr bald nach Erscheinen der «Sonderausgabe Maßnahmenvollzug». Hat die Redaktion die Reaktion auf ihre sorgfältige Aufklärungsarbeit bei der Drucklegung schon geahnt? Im Schlusswort der Sondernummer ist jedenfalls zu lesen: «Nachdem die gesamte Ihnen vorliegende Ausgabe anfangs nicht gedruckt werden durfte, gelang es schlussendlich, mit der Hilfe von einflussreichen Unterstützern und Förderern, Ihnen diese Ausgabe nun doch noch vorzulegen.»

Was ist so heiß an dieser Ausgabe? Fünf Universitätsprofessoren sind darin zu Wort gekommen, das österreichische Justizministerium, die Volksanwaltschaft, Amnesty International, Rechtsanwält_innen, Gefängnisseelsorger verschiedener Bekenntnisse, ein emeritierter Anstaltsleiter, Psychiater, die Mutter eines Insassen, Lebensberater_innen und viele andere. Lauter Rebellen gegen den Rechtsstaat? Wohl kaum, und deshalb musste auch ein höchst merkwürdiger Grund zur Einstellung auf unbestimmte Zeit gefunden werden. Zunächst aber ein Blick auf die «Blickpunkte».

Der Stellenwert der «Blickpunkte»

Leiter des Magazins mit dem Schwerpunkt Maßnahmenvollzug (MNV) ist der Kommandant und Chefinspektor der Justizwache der Sonderanstalt für «geistig abnorme Rechtsbrecher» am Mittersteig. Während für die potenziell lebenslange Anhaltung von Delinquenten mit negativer Gefährlichkeitsprognose pro Person und Tag (!) 450 bis 650 Euro aus den Steuereinnahmen aufgewendet werden, muss sich diese einzigartige Meinungs- und Informationsplattform aus Spenden, Abo-Beiträgen und vor allem der unbezahlten Knochenarbeit, die ein Printmedium von so hoher Qualität erfordert, am Leben halten. Zweck ist «Meinungsaustausch und Information … für … Insassen, Bedienstete der Justiz … und die Öffentlichkeit». Dieser humanitär sensibilisierten Öffentlichkeit ist derzeit die Möglichkeit einer Information aus erster Hand entzogen. Ganz offensichtlich nicht, weil subversive Polemik betrieben worden wäre, sondern weil der Tatbestand der Maßnahme selbst ein sehr wunder, sehr heißer Punkt ist.

Es ist niemand Geringerer als der emeritierte Anstaltsleiter der JA Mittersteig, der die völlige Abschaffung des Maßnahmenvollzugs fordert und auf fünf Druckseiten sachlich begründet. Also ganz bestimmt jemand, den man von jeglicher Blauäugigkeit lossprechen muss.

Zur Kurzinfo: Die §§ 21 bis 23 betreffen die »Maßnahme», d. h. die Anhaltung auf unbestimmte Zeit, wenn eine Gefährlichkeitsprognose attestiert wird.

Den besonders heißen Kern dieses Komplexes bildet § 21.2. Im Extremfall kann nach diesem Paragrafen eine bedingt ausgesprochene Haftstrafe zu lebenslänglichem Gefängnisaufenthalt führen. Obschon Extremfälle relativ selten vorkommen, zeigen sie die Bedenklichkeit dieser Rechtskonstruktion für jede_n einzelne_n Staatsbürger_in. Es sei an den Fall Bernhard K. erinnert. Die zwar äußerst beleidigende, aber nicht einmal öffentliche Beschimpfung seines Arztes trug ihm zehn Jahre hinter Gittern und eine Zwangsbehandlung mit Psychopharmaka ein, die diesen jungen Menschen zum Pflegefall auf Lebenszeit verstümmelte. Der Ankläger, ein Gutachter (und Studienkollege des Anklägers) und ein Richter hatten sich darauf geeinigt, die Beschimpfung des Arztes als gefährliche Drohung gegen Leib und Leben zu werten und den Beleidiger als gefährlich einzustufen. Der Fall zeigt, wie leicht diese Gesetzesstelle missbraucht werden und jede_n Bürger_in treffen kann.

Dabei wurde der MNV vor 40 Jahren mit besten Absichten geschaffen. Wer aus psychisch bedingtem Antrieb zum_r Täter_in wird, der_die soll zur Wiedereingliederung in die Gemeinschaft nicht nur die Strafe absitzen, sondern auch ärztlich behandelt und von gefährlichen Neigungen befreit werden. Damit wird der Gemeinschaft ein beziehungs- und arbeitsfähiges Mitglied zurückgegeben und potenzielle Opfer werden geschützt, weil Rehabilitierte ohne das Rachebedürfnis an einem Staat, der sie gedemütigt hat, wieder frei kommen.

Dr. Minkendorfer beschreibt in den Blickpunkten sehr genau und unpolemisch den Werdegang des Scheiterns dieser Absicht im praktischen Vollzug. Als Kosmopolit weist er darauf hin, dass die meisten europäischen Staaten ohne diese Rechtskonstruktion auskommen. Als Psychologe weist er darauf hin, dass zuverlässige Gefährlichkeitsprognosen nicht möglich sind. Als Jurist weist er darauf hin, dass die Prognose der Anhaltezeiten ins Reich der Astrologie gehören. Als Fazit fordert er den Rückschritt (hinter das Jahr 1975) zum Fortschritt.

Riesiger Kostenaufwand pro Person

An dieser Stelle eine Anmerkung, die nicht dem Heft entnommen ist. Die durchschnittliche Anhaltezeit der Maßnahmeinsass_innen beträgt 4,5 Jahre, Tendenz steigend. Insgesamt sind etwa 1000 Personen im Vollzug, Tendenz ebenfalls steigend. Der Kostenaufwand pro Person und Tag beläuft sich auf mindestens 450 Euro. Man kann sich also grob ausrechnen, wie gewaltig der Apparat sein muss, der mit diesem Aufwand finanziert wird. Eine Reform würde wahrscheinlich eine gigantische Umschichtung an personellen und materiellen Gegebenheiten erfordern, ein plötzliches Versiegen von Umwegrentabilitäten, Kompetenzenwechsel … etc. Hm – warum glaube ich eigentlich, dass die bisherige Unveränderbarkeit des MNV nicht nur auf humanitäre und juristische Kontroversen zurückzuführen ist?

Was noch im Heft steht, ist in jedem einzelnen Beitrag so wichtig und informativ, dass es in Kürze nicht wiedergegeben werden kann. Daher nur ein paar Highlights und die dringende Empfehlung, noch irgendwo ein Exemplar dieser Ausgabe zu ergattern. Es gab auch ein Online-Abonnement. Vielleicht fällt jemandem dazu etwas ein.

Aber zu den Highlights. Es mag paradox erscheinen, aber gerade die relative Zufriedenheit eines definitiv lebenslang in die Maßnahme Verbannten zeigt die besondere Unmenschlichkeit dieses Vollzugs. Franz D. hat bisher 37 Jahre im MNV zugebracht, obwohl ihm der Psychiater und Neurologe Prof. Dr. Peter Wilhelm Krieger attestiert: «Aus rein psychiatrischer Sicht finden siche keine Hinweise, dass … Gefährlichkeit (Gewalttätigkeit und Neigung …) … vorliegt.» Dieses Gutachten sei «nicht wissenschaftlich», weil es nicht mit der BEST abgesprochen sei. Und trotzdem sagt er: «Prinzipiell geht es mir meinen Lebensumständen entsprechend sehr gut.» Der Satz spricht alle Bände, die die Qual der Anhaltung «auf unbestimmte Zeit» für Insass_innen und Angehörige ausmachen. Eine definitiv festgelegte Haftzeit – sogar bis zum Lebensende – wird leichter ertragen als die Folter der Ungewissheit, die Hoffnung von Begutachtung zu Begutachtung, die immer wieder enttäuscht wird, diese periodisch wiederkehrende Vielleicht-Entlassung. Ist der große Humanist Christian Broda also mit seiner Forderung nach Therapie statt Strafe gescheitert? In Dänemark und anderen nordischen Staaten wäre er es nicht, vernehmen wir aus den Worten des internationalen Menschenrechtsexperten Manfred Novak.

Ach ja – der Grund für die sorgfältige, womöglich Jahre lange Überprüfung der PCs ist ein Video, das illegal in der Anstalt aufgenommen worden und an die Öffentlichkeit gebracht worden sei. Insider meinen, diese Aufnahme sei mindestens zwei Jahre alt. Dass sie ganz plötzlich zeitgleich mit den Medienberichten über unmenschliche Zustände in manchen Haftbereichen und mit der Herausgabe der Sondernummer auftaucht, ist wohl nur ein seltsamer Zufall (??).