«Gefordert und gefördert»vorstadt

Lokalmatador

Nusmir Bešić malt viel Gegend. Und er lenkt den Linienbus zwischen Aspern und Lassee.

TEXT: UWE MAUCH
FOTO: MARIO LANG

Die Hausmauern aus schimmernden Steinen, die Dächer aus Holzschindeln: Das Ölgemälde zeigt Lukomir, das Bergdorf in der Nähe von Sarajevo. Es hebt sich ab von den anderen Motiven in seinem Atelier. Die Höhenlage, die Vegetation, die Bauart der Häuser, das durch die Hitze hellere Licht – auch das ist ihm sehr vertraut. Es hat mit den ersten 16 Jahren seines Lebens zu tun.
Doch der Reihe nach. Er wartet geduldig an seinem Arbeitsplatz an der U-Bahn-Station bei der Aspernstraße. Man kennt Nusmir Bešić in Wien und im Marchfeld als den sympathischen Chauffeur der Firma Busam. Aus gutem Grund: Seit zwanzig Jahren lenkt er den Bus der Linie 392 von Aspern nach Lassee. Schon deutlich weniger Menschen kennen ihn als Maler.

An der Drina.

Und kaum jemand weiß von seiner persönlichen Geschichte, die mit der politischen Geschichte Europas eng verbandelt ist.
Er war gerade 16 geworden, als sich der Krieg seinem Dorf am Grenzfluss Drina näherte. Noch in seiner Schulzeit habe es wenig Unterschied gemacht, ob einer (oder eine) römisch-katholisch, serbisch-orthodox oder muslimisch war. Sagt der Busfahrer, bevor er den Motor in Aspern startet. «Das hat sich jedoch im Frühjahr 1992 dramatisch geändert.»
Man hatte seinen Eltern geraten, ein, zwei Tage Schutz vor dem feindlichen Angriff im Nachbardorf zu suchen. Mit den ein, zwei Tagen war es jedoch nicht getan. Nusmir Bešić erinnert sich noch genau: «Ihren Sohn sollten sie erst ein halbes Jahr später wiedersehen, in einem anderen Land.»
Das Marchfeld zieht auch an diesem Nachmittag an seinen Augen vorbei. Er hat es mit seinem Pinsel bereits in vielen Nuancen und Farben festgehalten.
In seinem Rückspiegel die Ankunft: Die Flüchtlinge aus Bosnien wurden im Frühjahr 1992 von Wien aus auch ins Umland gebracht. Die Busse machten damals Station in jeder Ortschaft, so wie der 392er von Nusmir Bešić heute. Genau genommen fuhren sie von einer Kirchengemeinde zur nächsten.
Überall öffneten sich Türen und Herzen, gab es zu essen, ein warmes Bett, offene Ohren. Den Ankommenden standen Tränen in den Augen ob dieser gelebten Willkommenskultur. Sie hatten fast vergessen, dass ein Kühlschrank gefüllt sein kann und dass man am Abend sein Zimmer nicht verdunkeln muss.

An der March.

Der Busfahrer und Maler erinnert sich, dass er schon bald einen Deutschkurs besuchen konnte: «Am Anfang habe ich mich bemüht, genau zuzuhören.» In seiner Lehrzeit im Lagerhaus von Lassee musste der dort zum Landmaschinenmechaniker Ausgebildete nicht mehr nur zuhören: «Do hob i aa den Dialekt gelernt.»
Menschen in seiner neuen Heimat gaben damals einiges von sich, sie haben dafür auch viel zurückbekommen. Nehmen wir doch nur einmal an, es hätte das alte Jugoslawien zu Beginn der 1990er-Jahre nicht blutig in einzelne Stücke gerissen. Womöglich würde Nusmir Bešić seine Bilder heute in Sarajevo, Mostar, in Dubrovnik, Zagreb oder Belgrad ausstellen. Gut, vielleicht erfüllt sich dieser Traum ja noch eines Tages.
Und was ist mit all den anderen Kriegsflüchtlingen, die zum Reichtum einer an sich schon reichen Gesellschaft beitragen? Was gerne übersehen wird: Sie fehlen heute dort, wo sie geboren wurden. Schmerzlich!
Gebührend Respekt zollt Nusmirs Nachbar in Lassee: der Maler Laf Wurm. Der Professor hat das künstlerische Talent und die Leidenschaft des gebürtigen Bosniers sofort erkannt. Sein Schüler sagt: «Er hat mich von Anfang an auf Augenhöhe gefordert und gefördert.» Das habe sich auf Sicht bezahlt gemacht.
Was man beim Betrachten der Bilder im Keller des Wohnhauses der Familie Bešić im Auge behalten soll, sind nicht nur die unterschiedlichen Stilrichtungen: Weil er vom Busfahren lebt, kann er nicht immer malen, wenn ihn etwas inspiriert. Er kann nur dann zum Bleistift, Tuschestift oder Pinsel greifen, wenn das der Fahrplan der Linie 392 erlaubt.

Nahe Sarajevo.

Auch auf Reisen kann er nicht einfach drauflosmalen. Weil wenn die Cousine seiner Frau in Sarajevo Hochzeit feiert, verbietet es der Anstand, zu sagen, dass es ihm jetzt beim Malen in dem Bergdorf Lukomir auch sehr gut gefiele. Dorthin kann er frühestens am nächsten Morgen fahren.
Auf der Heimfahrt mit dem Rad nach Wien tauchen Fragen auf: Ist es nicht so, dass auch heute 16-Jährige ihre Heimat wegen eines Krieges verlassen müssen? Hätten diese vielleicht ebenso das Zeug, sich in Wien und Umgebung fein zu integrieren? Warum will es heute nicht mehr gelingen, jungen Flüchtlingen eine ihnen zustehende Chance zu bieten? Sollte uns nicht die Geschichte von Nusmir Bešić dazu ermutigen?

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