Gefühlspolitiktun & lassen

Illustration: Thomas Kriebaum

Speakers' Corner (April 2023)

Und dann sagt sie in ­meinen ­Kopfhörer ­hinein, sie habe ­immer die Straßenseite gewechselt, wenn sie in Frauen­kleidern unterwegs gewesen sei – und katapultiert mich in meine Wiener Anfängerinnenjahre hinein, die ich noch 25 Jahre später nicht zum Derlöschen komm. Frisch aus der Vorarlberger Dorfidylle (mit seinem Scheißgerede über «andere»), Sekretärin in der Werbung (mit All-in-Scheißvertrag), mir eine Kaufsucht aufreißend (mit Scheißkredit bis 40). Der Rucksack der Vergangenheit, also Erdanziehungskraft ein Dreck dagegen. Oft zur Universität geschlichen. Sehnsuchtsort schlechthin. Doch zuvor: die Straßenseite gewechselt. Weil wait for it: Damit niemand erkennt, dass ich nur eine Lehre hab. Ich mein (heute halt): Geht’s noch? Nur? Erkennt? ­Geschämt hab ich mich für mich. Für das, was andere denken könnten über mich. Scham war – neben Neid – das vorherrschende Gefühl meiner ­emotionalen Grundausstattung. Fall schon lang nicht mehr auf die moralgeile Beschämungstaktik für ­ungeile Gefühle rein. Will auch nicht mehr auf die klassistische Bewertungslogik fürs kapitalistische Lohnsystem reinfallen. Lang nicht ­geahnt, dass auch Gefühle politisch und strukturell bedingt sind. Dass es unerwünscht ist, dass ich ­beneid, weil: Wenn man gönnen kann, muss niemand abgeben. Dass es aber durchaus erwünscht ist, dass ich mich schäm, weil: Wer sich schämt, versteckt sich – und stellt sich genau nicht vor die Paläste und fordert den Kampf von den ­wenigen, die den Frieden für alle verweigern (quasi Georg Büchner, Der Hessische Landbote, 1834). Ich weiß, das alles hat nichts mit trans zu tun, aber mit Straßenseiten.

Hier schreiben abwechselnd Nadine Kegele, Grace Marta Latigo und Weina Zhao nichts als die Wahrheit

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