1. Szene:
Freitag, 24. Jänner 2014, 17:15 Uhr. Tag des Akademikerballs.
Ich habe Probe für eine szenische Lesung, die ich mit meinem Freund dem Schauspieler M. J. H. im Extrazimmer eines Gasthauses im 4. Bezirk einstudiere. Drei Mal die Woche treffen wir uns zurzeit dort, manchmal auch vier Mal.
Ich gehe zur Straßenbahnstation; es sind zwar nur zwei Stationen bis zu meinem Ziel, aber heute schmerzen meine Beine seit längerer Zeit wieder, es wird wohl am nasskalten Wetter liegen.
In der Station stehen Wartende, einige in kleinen Gruppen, viele allein, es sind mehr Menschen hier als sonst an einem Freitag zu dieser Tageszeit. Auf der elektronischen Anzeigetafel steht nur die Wartezeit für die Linie 62. Acht Minuten. Übernächster Wagen in 28 Minuten. Die Linie 1 und die Badnerbahn wurden eingestellt. Wegen DEMONSTRATION kein Fahrbetrieb steht auf der Tafel. DEMONSTRATION in Großbuchstaben.
Die Badnerbahn hat am Karlsplatz dieselbe Endstation wie der 62er, könnte also fahren, und den 1er hätte man bis zur selben Schleife kurzführen können, dann würden jetzt nicht ganze Bezirke ohne Verbindung zur Innenstadt dastehen. Oder soll das etwa so sein? Oder sind die Straßenbahnfahrer_innen des 62er einfach nur mutiger als die der Badnerbahn und des 1er? Ich weiß es nicht.
Aus dem Informationslautsprecher heraus erzählt eine männliche Stimme, die sich in der Hochsprache offensichtlich nicht sehr zu Hause fühlt, in einem gelangweilten Plauderton, dass es wegen der DEMONSTRATION, die heute im 1. Bezirk stattfindet, zu unterschiedlichen Wartezeiten kommen wird. Betonung auf DEMONSTRATION. Gesprochene Großbuchstaben.
«BALL» wäre kürzer, sage ich zu mir selbst, nicht zu der Dame im Webpelz neben mir, die sich aber angesprochen fühlt und mir antwortet: «Ball? Wieso, Ball?» – «BALL, nicht Ball», sage ich zurück. «Großbuchstaben, verstehen Sie? Die Wartezeiten und die nichtfahrenden Straßenbahnen resultieren nicht aus der Demonstration, sondern aus dem Akademikerball. Gäbe es keinen Ball, gäbe es keine Demonstration dagegen und demnach auch keine Wartezeiten, ist doch schlüssig, nicht?“ Sie schüttelt missbilligend den Kopf, ehe sie jedoch zum Antworten kommt, rede ich weiter: «Ursache und Wirkung, dass meine ich. Warten Sie, ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wenn eine Lawine in ein Bergdorf rast und der Strom fällt deswegen aus, was wird für die Bewohner des Dorfes wohl Schuld sein, dass sie an diesem Tag nicht fernsehen können?» – „Die Lawine natürlich“, antwortet die Dame im Webpelz ungeduldig. «So? Und warum nicht der Stromausfall?» Sie sieht mich mit einem der-ist-nicht-normal-Blick an, ich übergehe das und rede weiter: «Sehen Sie, Ursache und Wirkung, aber das sagte ich bereits. Außerdem wäre es nicht nur richtiger, sondern auch einfacher und vor allem kürzer BALL auf die Anzeigetafel zu schreiben, anstatt DEMONSTRATION. Fahren Sie zur Hofburg?» – «Nein», entrüstet sich die Dame im Webpelz, «ich bin doch kein Nazi!» – «Aber vielleicht sind sie gegen Nazis?», frage ich und flüstere fast dabei. Die Dame im Webpelz schüttelt den Kopf und steigt in den 62er, der gerade eingefahren ist. Acht Minuten vergehen sehr schnell. Ich steige auch ein und nicke dem Straßenbahnfahrer anerkennend zu.
2. Szene:
Am halben Weg von der Straßenbahnstation zur Probe betrete ich ein kleines Wirtshaus, zwanzig Minuten habe ich noch Zeit. Ich bin immer zu früh.
Drei schon etwas angetrunkene junge Männer, gekleidet in Overalls einer Sanitärfirma, stehen mit schalvermummten Mündern und Nasen gegenüber der kleinen Bar an einem Brett, das zum Abstellen der Gläser und der Aschenbecher gedacht ist. Sie sind sehr gut aufgelegt. «Mia scheißn auf des Vamummungsvabot!», ruft einer der Drei dem Wirt zu, der mir mein bestelltes Seidl Bier über den Zapfhahn zureicht – ich bin offensichtlich in eine Diskussion geraten. «Waunn i jetzt a Kiwara war‘, kriagat i vo jedm vo eich 500 Eiro Buaßgööd, wegn Vastoß geng des Vamummungsgesetz! Lests ?s kaa Zeitung?», entgegnet der Wirt. «Mia scheißn auf des Vamummungsgesetz!» wiederholt der Overall von vorhin, zieht seinen Schal etwas herunter, sodass sein Mund frei für einen weiteren Schluck Bier ist und trinkt. «Außadem, homma eh kaane 500 Eiro!», sagt er mit glasigem Blick, stellt sein Glas ab, rülpst zur Bestätigung und zieht seinen Schal wieder über die Nase. «Und i bin eh kaa Kiwara», beschwichtigt der Wirt.
«Sei froh, dass wegn dera Oasch-Demonstration de Tramway ned fohrt, sunst mochast mit uns heit kaan Umsotz, wäu do war‘ ma scho dahaam!», grölt nun ein anderer der drei Overalls. «De Gschissanen soin hackln geh‘, ned demonstriern! De soin amoi de Leit in Ruah lossn, de wos eanan Ball feian woin, de hom jo kaan wos tau, de hom a aa Recht zum feian, genau wia mia do! De Scheiß-Demonstrantn studiern auf unsare Kostn und stott, dass s‘ wos lernan, de Trottln, demonstriern s‘, um unsa Gööd und de Tramway fohrt aa ned! I bin kaa Nazi, glaub ma’s, oba da söölige Adoif hätt denan scho a Demonstriern gebn, des garantier i eich!» Die anderen Overalls und auch der Wirt nicken bestätigend und prosten einander zu. Ein Sager aus meinen Wiener Beislgeschichten fällt mir ein: «Egal, um was in einem Wiener Wirtshaus diskutiert wird, es hört immer mit Hitler auf!»
Ich verlasse das Wirtshaus, ausgetrunken habe ich nicht – wieso vermummen sich die drei Overalls hier, wo sie keiner sehen kann, und nicht vor der Hofburg? Vielleicht mag das ihr Chef nicht, vielleicht aber sind sie nur nicht so mutig wie die Fahrer_innen des 62ers.
3. Szene:
M. J. H. erwartet mich bereits im Lokal. Sein Manuskript liegt ausgebreitet vor ihm, er ist bereit unsere Probe zu beginnen. «Wo bist du?», fragt er mich erstaunt, «Normalerweise bist ja vor mir hier.» – «Die Demonstration», antworte ich. «Warst du dort? Hat die schon angefangen?» – «Weiß ich nicht, interessiert mich nicht. Lass u n s anfangen.»
Nachwort:
Die Probe fiel schlecht aus. Zu viele ablenkende Gedanken …