Gefüllt mit Geist und Pappevorstadt

Haben die kleinen Buchhandlungen eine Überlebenschance? Beispiel ? 99

«Meine wundervolle Buchhandlung» heißt das Buch der leidenschaftlichen Buchhändlerin Petra Hartlieb über ihre wundervolle Buchhandlung in der Währinger Straße. Verlockend liegt es in der Auslage einer anderen wundervollen Buchhandlung, die den närrischen Namen «? 99» trägt und sich mitten im Einkaufszentrum des Gesiba-Wohnparks Alt Erlaa befindet.

Foto: Mehmet Emir

Titel wie «Die spirituelle Hausapotheke» oder «Gotteslob plus» oder «Das Buch der Psalmen» findet man nicht mehr hinter dem Schaufenster. Die waren die Spezialität des früheren Betreibers der Buchhandlung, und ich wunderte mich immer schon, woher der die frommen Kund_innen karrte, die solcherlei Lektüre nachfragten. Bella Edlinger hat das Sortiment säkularisiert; noch niemand hat die religiöse Ware ausgesprochen vermisst; der Buchladen des Wohnparks, den man als Stadt in der Stadt bezeichnen könnte, hat nun ein urbanes Profil und bietet Weltliteratur, Graphic Novels und die Essays der großen Nonkonformist_innen.

Rascher noch als die Vertreibung des Schöpfers aus den Regalen fällt den Besucher_innen, wenn sie eingetreten sind, die Revolution der «Möblasch» auf. Egal ob Regale, Verkaufspult, Bücherständer oder Sitzmöglichkeiten – sie haben alle eines gemeinsam: Das Herstellungsmaterial ist 100 Prozent Recyclingkarton. Ich sitze also auf einem Pappthron der Marke «Kurtl» (so viel Schleichwerbung für eine Pappendeckelidee muss erlaubt sein), höre mir die Lebensgeschichte Bella Edlingers an, mische mich in ihre Pläne ein, den Laden zu einem Nachbarschaftszentrum mit Jazzkonzerten und Autor_innenlesungen zu entwickeln, schüttle mit ihr den Kopf über die Prügel, die die Bürokratie dem kleinen Gewerbe vor die Füße wirft, und zeichne ihre Zuversicht auf, den Kampf gegen den Internet-Buchversandsmonopolisten-Goliath Amazon zu gewinnen.

Das Leben der Bella Edlinger, oder wie sie wurde, was sie ist. Sie kommt aus einer Fabrikantenfamilie (Branche: Textilveredelung), die einen seltsamen gemeinsamen Nenner hatte: «Es gab niemanden in der Familie, der kein Büchernarr war.» Im Klosterinternat las sie unter der Bettdecke die «Ansichten eines Clowns», schon als Zehnjährige zählte das Hippie-Musical «Hair» zu ihrer Lieblingsmusik, und als sie 16 wurde, nahm sie ihren Schlafsack unter den Arm und richtete sich im besetzten Auslandsschlachthof ein, «Arena» genannt. Aus Trotz, wie sie sagt, wurde sie Buchhändlerlehrling, der Vater hätte sie gern bei den Textilien verortet. Entgegen dem Wunsch des Vaters heiratete sie nicht den Bankier, der einen standesgemäßen Heiratsantrag hinlegte, sondern einen Geliebten und setzte sich mit dem staatlichen Hochzeitsgeld, das es damals noch gab, nach England ab, wo sie amtlich betrachtet als Abgängige lebte, sodass sie per Interpol nach Wien zurückgeschoben wurde.

Zu viele Lokale stehen leer

In der besetzten Hainburger Au stand ihr Zelt im «Vierer-Lager» – dort, wo auch die anderen Kollegen von ARGUS kampierten, jenem Fahrradlobbyverein, den Bella mitgegründet hatte. Als Mädchen für alles in der Volkstheater-Dramaturgie erlebte sie eine Epoche, in der das Theater zu jenem Laboratorium der Freiheit wurde, das sie gerne als Dauerzustand kultureller Institutionen gesehen hätte; sie organisierte die täglichen Widerstandslesungen im Volkstheater (Titel: «Unruhiges Österreich») mit, nachdem etwas Unmögliches geschehen war, der Regierungseintritt der Haider-Partei. Die Hochkultur war renitent geworden, größere Verdienste kann man Haider nicht zuschreiben. In der Roten Bar des Volkstheaters kuratierte Bella Edlinger eine Jazz-Reihe. Im Wohnpark lebt sie seit 28 Jahren und hat an allen subversiven Unternehmungen teilgenommen, die aus der Subkultur der Stadtrandsiedlung aufkeimten; als Erstes fällt ihr das Projekt «Frauenzimmer» ein, wöchentlicher Treff Alt Erlaaer Feministinnen, die einmal auch Schütte-Lihotzky als Gästin begrüßen konnten.

Jazz hat sie nach dem Volkstheater-Engagement auch für das Jazzlokal «Bird» im 6. Bezirk programmiert, und nun will sie die Buchhandlung ? 99 zum Jazzfreiraum des Wohnparks machen. Das ist Teil ihrer Strategie, das Geschäft vor dem Angriff des Internethandels zu schützen und sie, wie Hartliebs «wundervolle Buchhandlung», als sinnliche Alternative zu Amazon zu etablieren. In diesem Standhalten hätte sie gerne die Hilfe der Wohnparkverwaltung, der ein städtischer Branchenmix in der Shoppingzone zwecks Sicherung der Wohnqualität ein Anliegen sein sollte. Die Gesiba «beantwortet» diese naive Wunschvorstellung mit einer überteuerten Miete (dass sie zu teuer ist, erkennt man an den leerstehenden Lokalen). Wie alle «Selbständigen» ist die von Büchern Besessene der schier unausrottbaren Berufung der Bürokratie unterworfen, Engagement durch Überregulation zu ersticken. In diesem Fall geht es um eine zweite Türe, durch die man den Buchladen auch von der Außenseite des Wohnparks her betreten könnte.

Von einer Errungenschaft profitiert Frau 99: Die Siedlung am südlichen Stadtrand Wiens ist modellhaft barrierefrei. Der «Langen Nacht der Krüppel», mit der Bella Edlinger die Wohnpark-Bewohner_innen Anfang nächsten Jahres überraschen will, steht demnach buchstäblich nichts mehr im Wege. Als kollektiver Schutzpatron und zugleich als Subjekt der nächtlichen Performance schwebt ihr das Rollwagen-Trio der Alt-Partisanen der Wiener Krüppelbewegung vor – bestehend aus dem Musiker Sigi Maron, dem Schriftsteller Erwin Riess und dem Lokalmatador und Nebenerwerbsbioschnapsbrenner Walter Eckhart. Bei amazon kann man sich solche Nächte nicht bestellen, schmunzelt Bella Edlinger. Kaum eine Chefin, die ich kenne, hat jemals besser die Volksweisheit widerlegt, Jammern sei der Gruß der Buchhändler_innen.

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