Vom Loser zum Kunstschaffenden: der Gefangene Ernst Platt
9. Mai abends. Die Galerie Contemplor im Palais Esterhazy ist mit Gästen gefüllt, die sich vorerst fasziniert am Anblick großartiger Gemälde berauschen, obgleich die vernissageüblichen gefüllten Gläschen schon bereitstehen. Ernst Platt hat es mit seinen Bildern mitten ins Herz der Kunstszene Wien geschafft. Franz Blaha hat die Vernissage besucht.
Foto: Mario Lang
Man erwartet eine Eröffnungsrede der Veranstalter, aber sie bleibt aus, und der Ernstl hat das vielleicht so gewollt. Seine Kunst will er bewerten lassen, nicht seinen Lebensweg. Diesem Anliegen zuliebe daher erst ein Blick auf die Gemälde.
Auf https://www.burn-in.at/de/ernst-platt laufen vier von mehr als 450 geschaffenen Bildern als kleine Diashow. Wer mehr sehen möchte, muss sich hingoogeln. «Ernst Platt Bilder» ins Suchfenster und «Weitere Bilder zu Ernst Platt» anklicken. Wer seine Ausstellungen verfolgen möchte, vernetzt sich mit ihm auf Facebook. Seine Malkunst hält Zwiesprache mit den Emotionen der Betrachter_innen, ist form- und farbstarke Brücke zwischen Realität und Abstraktion.
Zurück ins Palais. Die Ausstellung bedarf keiner Eröffnungsrede, man lauscht mit, wenn langjährige Begleiter_innen und Gönner Ernst-Platt-Anekdoten austauschen. Bald klebt der erste rote Punkt. Ein Bild ist verkauft. Insider kennen dessen Geschichte. Die Leinwand ist ein Gefängnis-Leintuch. E. P. hat das Bettzeug geerbt, nachdem sein Mitinsasse sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Vielen Insassen erscheint der Freitod als einziger Ausweg aus der Haft «auf unbestimmte Zeit». Wenigen gelingt er. Und so gut wie niemand schafft, was Ernst Platt geschafft hat. Nämlich aus eigener Kraft diesen Wahnsinn durchzustehen und in Freiheit wieder Fuß zu fassen. Einige Eigentumsdelikte, ein Vorstrafenregister und ein psychiatrisches Gutachten von Dr. Gross hatten 1997 potenziell lebenslanges Gefängnis für ihn ergeben. So will es der Paragraph 21.2 des StGB.
300 Seiten Autobiografie
«Vorbeugende Maßnahme» heißt diese Art von Haft. Ernst P. überlebt nicht zuletzt durch überaus treue und um ihn besorgte Kontaktpersonen. Allen voran die Lebensgefährtin Monika, Frau Dr. D. und der unermüdliche Besucher Pater Karl Helmreich. Man verwehrt Ernst P. das Mitnehmen seiner Schreibmaschine, aber er darf Briefe mit der Hand schreiben. Den Briefen an Dr. D., die ihm und seiner Lebensgefährtin schon vor der Haft beigestanden war, fügt er aus Dankbarkeit Zeichnungen bei, die immer bemerkenswerter werden. Auf sein neu entdecktes Talent hingewiesen, bittet er um Bücher über Malerei und bringt sich in der Tristesse der «Haft auf unbestimmte Zeit» das Malen bei. Material ist äußerst schwer zu beschaffen. Bisweilen müssen vor dem Wegwerfen gerettete Matratzenbezüge als Leinwand herhalten.
Aber das gewissenhafte Erlernen des Handwerks und das Ausdruckfinden durch Gestaltung werden zur Selbsttherapie, denn auf die in die Freiheit führende Einzeltherapie bei Prof. Grünberger muss er sieben Jahre warten. In seiner Autobiografie ist er dann auch voll Dankbarkeit und Verehrung diesem Therapeuten gegenüber. Prof. Grünberger ermutigt ihn auch zum schriftlichen Aufarbeiten seiner Biografie. Ein fast 300 Seiten starkes Buch wird entstehen. 2004 bekomme ich den ersten Entwurf und biete an, ihn zu lektorieren. Er zieht ihn zurück. Zu vieles möchte er noch anders formulieren. Am 28. Dezember desselben Jahres darf er zum ersten Mal für eine Nacht nach Hause zu Monika, der Liebe seines Lebens, die ihm all die Jahre hindurch beigestanden ist. Fast auf den Tag genau sieben Jahre nach seiner Inhaftierung.
Ernsts Autobiografie bekomme ich erst wieder – druckfrisch – als fertiges Buch zu Gesicht. Als ich ihn einlade, es öffentlich zu präsentieren, komme ich mit meiner Einladung schon zu spät. Er will nichts mehr davon wissen, er möchte auch gar nicht darüber berichten. Erst bei der Vernissage am 9. Mai erfahre ich ein Detail hinter dem Frust. Der Weiße Ring hat Opferentschädigung für ihn erkämpft, Entschädigung für Ereignisse im Kinderheim, in das er schon sehr früh gesteckt worden war. Der Verlag verlangt diese Summe als Kostenbeteiligung, produziert eine Auflage mit passablem Layout, ohne jegliches Lektorat und ohne nennenswerte Promotion.
Das Buch ist nirgends mehr erhältlich. Schade. Ein vom Säuglingsalter an Gewalttätigkeiten und Schändungen ausgesetztes Leben tut sich vor einem auf. Anklage, Selbstanklage, Geständnisse und Läuterungen führen die Leser_innen durch ein Purgatorium, das in seinen Abgründen kaum zu ertragen ist. Die Beschreibung der acht Jahre im Maßnahmenvollzug ist sachlich und kann von jedem bestätigt werden, der ausführlich recherchiert hat. Ein Juwel ist die Dokumentensammlung am Ende, in der alle Beurteilungen, Begutachtungen und Begründungen der jeweils weiteren Anhaltung wörtlich wiedergegeben sind. Der Maßnahmenvollzug stellt sich selbst darin als ein tragischer Spielautomat dar. Jährlich wird neu begutachtet, jährlich die neue Chance auf Freiheit ins Fenster gestellt, jährlich der Spieleinsatz höchster Compliance gefordert und jährlich wird dieser Einsatz wieder verloren, die Haft wieder verlängert. Der Automat beruht auf einem Misstrauensräderwerk.
Wie frei ist man dann in Freiheit?
Bald werden es 500 Bilder sein. Eines bemerkenswerter als das andere. Ist E. P. heute ein reicher Mann? Er lächelt unter Seufzern. Bilder malen und Bilder verkaufen sind zweierlei. Soziale Zuwendungen ermöglichen ihm die Miete einer Subsub-Standard-Wohnung. Das Wunder eines nun schon zehn Jahre unbescholtenen arbeitsintensiven Lebens unter kargen Verhältnissen verdankt er seinem unbändigen Lebenswillen und der Anerkennung seines Freundeskreises. Und nicht zuletzt, man muss es nochmals sagen, seiner Godmother Dr. D., die nicht aufhört, ihn ehrenamtlich in seiner Alltagsplanung zu unterstützen.