Interview: Saskja Schindler, Soziologin
Normaler Alltag war gestern. Dass Corona alle Routinen unterbricht, birgt Chancen und Risiken für eine Gesellschaft.
Interview: Lisa Bolyos, Foto: Christoph Schmidt
Was passiert aus Sicht der Soziologin in der Coronakrise mit der Gesellschaft?
Im Wesentlichen kann man sagen, dass Routinen unterbrochen werden. Der Alltag wird stark verändert, Selbstverständlichkeiten werden in Frage gestellt. Das was man als Hamsterrad bezeichnet – man steht in der Früh auf, die Kinder müssen zur Schule, die Erwachsenen zur Arbeit –, funktioniert plötzlich nicht mehr oder ganz anders. Diese Entwicklung birgt zwar verschiedene Risiken, aber auch die Chance, zu erkennen, dass Dinge, die immer unveränderbar erschienen, tatsächlich doch veränderbar sind. Es ist darum auch kein Zufall, dass die Politik dagegen die Bezeichnung «Ausnahmezustand» ins Spiel bringt, um zu sagen: Die Zustände sind nicht grundsätzlich veränderbar, sondern nur ausnahmsweise.
Werfen wir einen Blick auf die Risiken: Viele Freiheiten und Rechte – zu reisen, sich zu versammeln, Asyl zu beantragen – werden eingeschränkt oder ausgesetzt. Ist die Bereitwilligkeit, mit der das hingenommen wird, Zeichen dafür, dass die Demokratie mit ihren Bürgerrechten gar nicht so stabil ist?
Es liegt natürlich eine Gefahr darin, wenn sichtbar wird, wie leicht diese Einschränkungen durchsetzbar sind, sobald Leute Angst haben. Und damit behaupte ich nicht, dass die Angst unbegründet ist oder jede Einschränkung sinnlos. Aber manche Entwicklungen sind extrem problematisch: etwa wenn Innenminister Nehammer durch ein Einreiseverbot das Asylrecht de facto außer Kraft setzt – dafür gibt es keinen vernünftigen Grund, man könnte Geflüchtete genauso wie zurückgereiste Tourist_innen oder eigens angeworbene Pflegekräfte 14 Tage in Quarantäne beherbergen.
Viele Menschen treibt die Sorge um, dass manche der jetzt eingeführten Restriktionen nur ein Probelauf sind.
Das Problem ist, dass man aus zwei Gründen sehr schwer gegen die Einschränkungen ankommt: Erstens gibt es keine Gegenöffentlichkeit dafür, zweitens argumentiert die Gegenseite vermeintlich rational. In dem Moment sind kritische Medien noch wichtiger als sonst – und die Berichterstattung sollte nicht zu 99 Prozent aus der Weitergabe von Regierungsinformationen über Corona bestehen.
Die Regierung lässt sich von Virolog_innen beraten – gut und wichtig, aber sollten nicht auch Soziolog_innen Beratungsfunktion haben, um gesellschaftliche Fragen einzubringen?
Was in der Verwaltung der Krise völlig fehlt, ist der Blick auf die Ungleichheit. Welche sozialen Gruppen sind wie betroffen? Wie könnte man Maßnahmen sinnvoller ausgestalten? Für welche besonders verwundbaren Gruppen wie etwa wohnungs- und obdachlose Leute müsste man speziell Ressourcen mobilisieren, um Unterkunft und gesundheitliche Versorgung zu sichern? Nehmen wir das Verbot her, mit öffentlichen Verkehrsmitteln ins Grüne zu fahren. Das stört mich natürlich nicht, wenn ich ein Haus am Schafberg habe oder ein Auto. Es trifft die Leute, denen ohnehin schon nur geringer Wohnraum ohne Außenflächen zur Verfügung steht. Und als wäre das nicht genug, werden noch die Bundesgärten geschlossen. Soziolog_innen oder Interessensvertretungen von verwundbaren Gruppen könnten solche Perspektiven einbringen.
Auch bei der Idee, dass alle wieder arbeiten gehen, Kindergärten und Schulen aber geschlossen bleiben, scheint die Expertise aus der Praxis zu fehlen.
Abgesehen von der Frage der Machbarkeit treten da ganz bestimmte Wertigkeiten zutage. Aber auch da gibt es etwas, was sich als Chance verstehen ließe: Verfehlte Politikentwicklungen der letzten Jahre werden jetzt sehr deutlich. Das betrifft die Kinderbetreuung, aber auch den Gesundheitsbereich. Jahrelang hat man infrage gestellt, wozu man all die teuren Intensivbetten braucht, und hat sie weggespart. Und jetzt werden sie eben knapp. Bestimmte Arbeiten, die wenig gesellschaftliche Anerkennung bekommen und niedrig entlohnt sind – Pflegearbeit, aber auch Arbeit im Supermarkt –, erweisen sich als extrem relevant. Die Arbeitsbedingungen in diesen Berufen gilt es jetzt zu thematisieren, und nicht nur auf Social Media zu «applaudieren». Auch von Seiten der Gewerkschaft ist es notwendig, schon in der Krise Verbesserungen zu forcieren und das gegenwärtige Bewusstsein zu nützen, dass diese Arbeit wesentlich ist und auch entsprechend entlohnt werden muss.
Der Abschluss der GPA in den Kollektivvertragsverhandlungen der Sozialberufe weist nicht darauf hin, dass die Stärke des Moments genutzt wurde.
Ich denke, hier wurde eine große Chance versäumt. Die Forderung einer schrittweisen Arbeitszeitverkürzung ist gerade im Pflegebereich zentral, wo die Beschäftigten vielfach physisch und psychisch sehr belastende Tätigkeiten ausüben. Die Beschäftigten haben eindrucksvoll gemeinsam dafür gekämpft und der aktuelle Abschluss, der nur eine marginale Arbeitszeitverkürzung vorsieht, ist sehr enttäuschend. Natürlich kann ich mir vorstellen, dass durch die aktuelle Situation Druck auf die Gewerkschaft entstanden ist, warum der Abschluss aber für den Zeitraum von drei Jahren gemacht wurde, ist schwer nachvollziehbar. Eine deutliche Verkürzung der Arbeitszeit, gerade in einer Branche, die nicht zu den am einfachsten zu organisierenden zählt, hätte auch eine wichtige Vorbildfunktion für andere Bereiche und wäre gesamtgesellschaftlich betrachtet extrem wichtig: Aktuell hat ein Teil der Arbeitenden kaum Freizeit, ein anderer Teil dagegen findet keine Arbeit, weil es viel mehr Arbeitslose als offene Stellen gibt. Die Politik reagiert darauf vorwiegend mit verstärktem Druck auf Arbeitslose, anstatt an dem realen Problem etwas zu ändern.
Ist jetzt der richtige Zeitpunkt für einen Streik?
Einerseits möchte ich sagen, ja, klar!, denn ich bin grundsätzlich eine Freundin von Arbeitskämpfen. Aber man muss den Moment richtig einschätzen und überlegen: Bringt man die notwendige Gegenöffentlichkeit zustande? Welche Strategien hat man, damit eine Arbeitsniederlegung in der jetzigen Situation nicht als unsolidarisch umgedeutet wird? Ein zentraler Moment jedes Arbeitskampfes ist die Erfahrung, gemeinsam etwas zu erreichen, miteinander zu lernen. Auch das könnte in der Vereinzelung, wenn man von Zuhause arbeiten muss, schiefgehen.
In Ihrer Studie zu «Umkämpften Solidaritäten» beschreiben Sie sehr verschiedene Zugänge zum Konzept der Solidarität – was davon lässt sich jetzt beobachten?
Krisen sind natürlich per se kein erfreulicher Anlass, aber sie bieten die Chance, grundsätzliche Fragen von Solidarität aufzugreifen. Bei uns im Haus haben Bewohner_innen Zettel aufgehängt, auf denen sie Nachbarschaftshilfe anbieten, solcher Art gegenseitige Unterstützung ist etwas, was sich auch in vergangen Krisen abgezeichnet hat. Solidarität ist eine Erfahrung, und wenn man die selbst einmal gemacht hat, hegt man oft auch selbst den Wunsch, sie weiterzugeben. Aber es ist auch notwendig, Solidarität strukturell zu fördern. Stattdessen wird eher autoritär reagiert, mit Vorschriften und Sanktionen.
Die Solidarität, die von der Regierung eingefordert wird, gilt vor allem der Wirtschaft.
Der Fokus einer Regierung mit rechter Dominanz liegt auf jeden Fall auf der Rettung der großen Unternehmen. Es ist leider allen Krisen der letzten Jahre gemein, dass das Risiko vergesellschaftet wird, das heißt, Ausfälle tragen wir alle mit unseren Steuergeldern, aber die Gewinne, die gemacht werden, sobald die Wirtschaft wieder läuft, bleiben private Einnahmen der Unternehmer_innen. Und die ausgegebenen Steuern müssen dann woanders eingespart werden – nämlich beim Sozialstaat, also bei jenen, die am wenigsten haben.
Es wird aber auch hier etwas deutlich: dass das Wirtschaftssystem, das wir haben, mit seinen langen Lieferketten, seiner Just-in-Time- und Just-in-Case-Produktion massive soziale Verwerfungen produziert und zudem extrem instabil ist. Und diese Chance heißt es jetzt zu nützen, um ein solidarisches Wirtschaftssystem einzuführen, dass weniger krisenanfällig ist und nicht nur die Risiken, sondern auch die Gewinne der Allgemeinheit zukommen lässt; in dem es um Bedürfnisse geht, um Menschen, um die Natur und um eine gemeinsame Produktion für den gesellschaftlichen Bedarf. Dann hätten wir auch dieses massive Problem sozialer Unsicherheit nicht; denn die Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte zeigen, dass die Reallöhne kaum bis gar nicht steigen und es bei Niedriglöhnen sogar zu deutlichen Reallohnverlusten kommt, während Produktivität und damit Gewinne aber sehr wohl steigen.
Ende März wurde bekannt, dass auch René Benko, einer der reichsten Unternehmer Österreichs, beim deutschen Staat um Finanzhilfe angesucht hat. Gibt es den Moment, wo die Steuerzahler_innen sagen, jetzt reicht’s uns mit der Umverteilung nach oben?
Leider ist das nichts, was wir in Österreich aktuell in größerem Ausmaß beobachten können. Und das liegt auch daran, dass in den letzten Jahren oder auch Jahrzehnten die vertikale Achse sozialer Ungleichheit verschwiegen oder verleugnet wurde. Es wurde mit viel Mühe die Ideologie durchgesetzt, dass jeder seines Glückes Schmied ist, dass du, wenn Du einkommensarm oder arbeitslos bist, zu wenig motiviert und selber Schuld bist, und obendrauf kommt der Diskurs dazu, dass «die von außen» dir was wegnehmen, und nicht «die von oben». Die große Frage ist also, wie man an der Basis Solidarität fördern kann. Da fehlt es in Österreich sicherlich auch an einem konsequenten progressiven Zusammenschluss, der die vielen einzelnen Initiativen versammelt, damit sie eine gemeinsame Kraft entfalten können.