Versuch einer Antwort auf einen Leserbrief
Liebes Augustin-Team!
Ich schreibe Euch, weil ich mir denke dass ich bei Euch vielleicht eine Antwort auf eine Frage finden könnte, die mich seit ein paar Monaten verwirrt (oder zumindest einen Hinweis, wo ich eine Antwort finden könnte):
Ich habe sehr oft kein Bargeld eingesteckt. Wenn ich dann Menschen sehe, die sich ihren Lebensunterhalt erbetteln müssen kam mir daher schon ein paarmal die Idee, beim Nahrungsmittel einkaufen zum Beispiel einen Leib geschnittenes Brot und etwas Wurst oder Käse oder ein paar Äpfel mehr einzukaufen und ihnen das dann zu geben. Die Reaktion ist meist eine für mich unerklärbare, ich scheine den Betreffenden keine Freude damit zu machen. Wieso?
Mit verwunderten Grüßen
Veronika Brandl
Der Augustin scheint ja inzwischen eine Auskunftsinstanz für Armuts-Angelegenheiten zu sein. Solche Mails häufen sich. Die Redaktion kann nicht alle beantworten. Die Leserin Veronika Brandl hat Glück gehabt: der zuständige Redakteur konnte sich Zeit für den Versuch eines Kommentars nehmen:
Liebe Veronika,
ich versuche eine Antwort. Ich habe keine parat, erst im Schreiben dieser Replik auf dein Mail entsteht sowas wie eine Meinung in meinem Kopf. Geld hat eine quasi religiöse Bedeutung in unserem Leben. Alles dreht sich ums Geld. Wir würden nicht akzeptieren, wenn unsere Arbeit“geber“ uns in Naturalien auszahlen würden: 10 Kilo Brot, 1 Kilo Wurst, 5 Kilo Birnen pro Monat. Geld haben oder nicht haben entscheidet über Ausschluss oder Nicht-Ausschluss aus fast allen Bereichen des Alltags. Ein Beispiel. Du wirst ohne Fahrschein erwischt. Der Fahrscheinautomat war zu kompliziert für dich (Beispiel: Badner Bahn). Du hattest keine Zeit mehr, den Automaten zu durchschauen. Ein Kontrollor verlangt 70 Euro von dir. Du gibst sie ihm, die Sache ist erledigt. Ein Mensch ohne Geld wird ohne Fahrschein erwischt. Die Folge: entwürdigende Verhöre am Bahnsteig, vor den Augen hunderter Passanten. Ausweiskontrolle. Aggressives Gehabe der Polizisten, die von den Kontrolloren zu Hilfe gerufen werden. Ab in die Wachstube. Hoffen, dass grad einigermaßen humane Polizisten Dienst haben. In der Regel wird das nicht der Fall sein…
Ich nehme an, rumänische Roma, die nach Wien kommen, um zu betteln, hungern nicht. Sie sind insoweit „organisiert“, dass sie wissen, wo sie Brot herkriegen. Sie betteln, weil sie in 2 Tagen soviel Geld erbetteln können, wie sie in Rumänien für 1 Monat Hilfsarbeit verdienen würden. Wenn sie 7 Tage betteln, können sie und ihre zuhause gebliebenen Angehörigen die restlichen 3 Wochen des Monats in Rumänien davon leben. Das ist der Sinn ihrens Pendelns zwischen Rumänien und Wien.
Den Apfel, den du vermeintlich „pädgogisch klug“ hergibst, können sie nicht mit in ihre Roma-Siedlung am Rande einer rumänischen Stadt bringen. Die hundert Euro, die sie in einer Woche erbetteln, machen sie aber in ihrer Siedlung zur „Mittelschicht“. Ich nehme an, du weißt, wir sehr wir alle im Geldsystem leben, wie sehr das Geld in unseren Köpfen steckt, wie krank wir werden, wenn der Bankomat Woche auf Woche keine Scheine mehr rausschiebt, weil unser Schuldenrahmen überschritten ist. Warum verweigerst du denen, die sich am heftigsten nach Geld sehnen, das Objekt ihrer Sehnsucht, und speist sie mit geschnittenem Brot ab, von dem ihre in der Siedlung Zurückgebliebenen sicher nichts haben, denn es ist hart, wenn es im Osten ankommt.
Mein Vorschlag: trag dazu bei, dass sie mit hundert Euro zurückkehren in ihr rumänisches Ghetto. Vielleicht können sich damit die Frauen der großen Familie den Luxus leisten, sich billige Halsketterl zu besorgen. Mit deiner 2 Euro-Münze hast du dann beigetragen, dass die Frauen einen Moment lang stolz verspüren. Mit einem Apfel bringst du keinen Hauch von Stolz in die Familie. Wenn du oft kein Bargeld eingesteckt hast, dann mach es doch so: gib einer Bettlerin einen Zehn-Euro-Schein, wenn du eines Tages zufällig ungewöhnlich viel Bargeld mit dir herumträgst.
Wenn du zufällig ein Kilo Bio-Äpfel übrig hast, bring sie in die Augustin-Redaktion. Uns kannst du mit den Äpfeln eine Freude bereiten…
Robert Sommer für die Redaktion