Gemeindewohnungsvergabe: 5 Jahre Leben auf der Straße sind …tun & lassen

... "kein anrechenbarer Umstand"

tun_BetreutesWohnen__mario.jpgAttila M., 47 Jahre alt, Augustinverkäufer vor der Volkstheaterpassage, lebt nach der dritten Scheidung seit fünf Jahren auf der Straße. Eine Bucht in der Lobau oder die Toilette eines türkischen Copa-Kagrana-Wirten auf der Donauinsel waren seine Adressen, der Schlafsack sein Dach überm Kopf. Zur Zeit übernachtet er in der längst winterlich überfüllten Gruft unter der Mariahilfer Kirche. Aus Platzmangel schläft er sitzend, den Kopf auf die Tischplatte gelegt. Wenn der fünfte Winter vorbei ist, wird er wieder auf der Insel leben. Mangels Vorliegen eines anrechenbaren Umstandes könne er nicht für eine Gemeindewohnung vorgemerkt werden, erfuhr er dieser Tage von der MA 50.

Attila M. war Hochleistungssportler. Aufgewachsen in einer ungarisch sprechenden Familie in Klausenburg, Rumänien, hatte er es als Angehöriger einer ethnischen Minderheit unter dem Ceaucescu-Regime nicht leicht, sich in der rumänischen Wasserball-Nationalmannschaft einen sicheren Platz zu erarbeiten. Als Ungar musstest du immer doppelt so gut sein wie die Rumänen, sagt Attila. Wenn das Nationalteam im Westen spielte, wurde sein ungarischer Star nicht mitgenommen. Solche Diskriminierungen motivierten ihn 1988 zur Flucht nach Österreich. Die burgenländische Grenze wurde damals noch von ungarischen und nicht von österreichischen Soldaten bewacht. Der aufgeschreckte ungarische Militärhubschrauber kreiste schon, aber Attila und drei Mitflüchtlinge hasteten über vier Zäune des Eisernen Vorhangs nach Andau, Seewinkel.

1995 wurde Attila M. österreichischer Staatsbürger. Die Einbürgerung wurde von einem Salzburger Spitzen-Wasserballverein beschleunigt, dessen Aushängeschild und Frontman er war. Die sportliche Vergangenheit hat seinen Körper ausreichend robust für das Straßenleben gemacht, meint Attila. Andere Straßenmenschen scheitern körperlich an der allzeit zügigen Donauinsel. Vor seinem Absturz habe er gut verdient, unter anderem als Privatdetektiv und als Bodyguard. Seiner letzten Frau hatte er ein Haus in Ungarn gebaut. Und dann den Fehler begangen, sie zur Alleineigentümerin zu machen.

Nach fünf Jahren hat Attila M. die Nase voll. Er hat genug von dieser falschen Unter-der-Brücke-Romantik, von der Insel-Tümelei. Wer, wenn nicht nicht er, habe verdammt das Recht auf eine soziale Wohnung, fragte er zunächst die SozialarbeiterInnen in der Gruft, die ihm aber nur den Umweg über eine Phase des betreuten Wohnens anbieten konnten. Für viele Betroffene ist betreutes Wohnen ein optimales Übergangsstadium, denn jahrelanges Straßenleben kann tatsächlich zu einem gewissen Verlust der alten Fähigkeit führen, eine Wohnung zu erhalten. Das sieht auch Attila M. ein. Aber was hat das mit ihm zu tun? Ich bin weder dem Alkohol noch einer verbotenen Droge zugeneigt. Wer mich zum Betreuungsfall abstempelt, soll mir erklären, warum! Er nahm die Suche nach einer erschwinglichen Wohnung in die eigene Hand und fand in die Graumanngasse 7, wo das Büro für soziale Wohnungsvergabe der MA 50 seinen Sitz hat. Das Ergebnis ist in Form der Faksimile auf dieser Seite zu sehen. Lieber Herr, 20.000 Leute warten auf eine Gemeindewohnung, habe ihm die die MA-50-Dame erklärt. Worauf er nur geantwortet habe: Und können Sie mir bitte sagen, wie viele Menschen heute, so wie ich, am Morgen aus dem Schlafsack gekrochen sind, die Donauinsel verlassen und die Graumanngasse aufgesucht haben? Und können Sie mir bitte erklären, welche Kategorie von Menschen anrechenbarere Umstände vorweisen könne als einer, der fünf Jahre lang auf der Donauinsel lebt?

Aspekte der Entmündigung im betreuten Wohnen

Was ist das für ein Menschenrecht auf Wohnung, klagt Augustinverkäufer Attila M., wenn es mir nur gewährt wird, wenn ich mich entmündigen lasse. Entmündigt werde er, indem man ihn zum Betreuungsfall erkläre und ihm das Durchgangsstadium des betreuten Wohnens vorschreibe, als unumstößliche Bedingung für einen Schlüssel zu einer kommunalen Mietwohnung.

Betreutes Wohnen: Zielgruppe sind Menschen, die die Bewältigung des Alltags und das Erhalten einer Wohnung außerhalb einer Institution lernen wollen (z. B. Obdachlose, ehemalige Drogenabhängige, Haftentlassene usw.). Eine Information des Webservice der Stadt Wien. Alles nicht wahr. Betreutes Wohnen ist eine Zwangsbetreuungsphase, bevor der Wohnungssuchende als fit für eine eigene Wohnung erklärt wird. Ob die Betroffenen die beiden genannten Fähigkeiten (Alltagsbewältigung, Wohnungserhalt) lernen wollen oder nicht, ob sie die Fähigkeiten besitzen oder nicht sie kommen nur über den Umweg des betreuten Wohnens zu einer eigenen Gemeindewohnung. Wohnungslose kommen nur dann in den umstrittenen Genuss des betreuten Wohnens, wenn sie sich in eine der anerkannten und mit ausgebildeten SozialarbeiterInnen bestückten Wohnungsloseninstitutionen (für InländerInnen only!) einfügen.

SozialarbeiterInnen beim Augustin haben die Erfahrung gemacht, dass die Zwischenlösung des betreuten Wohnens ideal sein kann für viele Gestrandete, die nicht ohne Hilfe wieder langsam die Kunst der privaten Delogierungsprävention, die Disziplin des Mietezahlens, das Know-how der Selbständigkeit erlernen könnten. Die obligatorische Einführung dieser Zwischenlösung für das gesamte wohnungssuchende Klientel negiert jedoch das Prinzip, die individuellen Handlungsfähigkeiten der Betroffenen zu berücksichtigen.

Die BetreuerInnen müssen unter den gegebenen Rahmenbedingungen ihrer Arbeit davon ausgehen, dass die Wohnungssuchenden zum Zeitpunkt der Anfrage nach einer Wohnung generell wohnunfähig sind und daher den Risken freien, unbetreuten, unkontrollierten Wohnens nicht gewachsen. SozialarbeiterInnen, die diese Voraussetzung in Frage stellen und die bestürzt auf die banalste Wahrheit hinweisen, dass nicht alle KlientInnen über einen Kamm zu scheren seien, stellen ihren Job in Frage.

Denn das erste Gebot der amtlichen Wohnungslosenhilfe ist, dass das Gesetz der Vier Schritte zum Dach überm Kopf unumstößlich ist. Schritt 1: Der Betroffene meldet sich über Sozialarbeiter seiner Betreuungsstelle für betreutes Wohnen an. Schritt 2: Er vereinbart einen Termin für das Erstgespräch. Schritt 3: Die Betreuungsinstitution klärt ab, wie wohnfähig der Anfrager ist. Schritt 4: Der Betroffene kontaktiert regelmäßig seine Betreuer, bis ein Wohnplatz für ihn frei ist. Zu diesem Schritt 4 sind manche Wohnungssuchende nicht mehr bereit: Die Kategorisierung als Betreuungsfall empfinden sie als Bestrafung für ihren Sturz in die Armut. Wie viele sich der Entwürdigung des betreuten Wohnens entziehen, zeigt keine Statistik. Unter den AugustinverkäuferInnen jedenfalls ist Attila M. nicht der einzige, der das Betreuungsangebot als Zumutung empfindet und lieber wohnungslos bleibt.

Auch die Caritas unterwirft sich dem Trainingswohnungs-Dogma

In Wien bieten folgende Organisationen betreute Wohnplätze an: Caritas, Volkshilfe, Neustart, Heilsarmee, WOBES und Wiener Hilfswerk. An diesen Institutionen des betreuten Wohnens kann sich kein Sandler vorbeischwindeln: In der Regel muss man zwei Jahre lang betreut, aus Attilas Sicht unter Kontrolle wohnen, bevor man für ausreichend vorbereitet für eine eigene Wohnung eingestuft wird. Alle diese Organisationen befinden sich in finanzieller Abhängigkeit vom Fonds Soziales Wien, der diesen Stufenplan zur Gemeindewohnungsreife vorgibt; wen wundert’s, dass sie alle offiziell hinter dem Stufenplan stehen.

Jürgen Hölbling von der Wohnungslosenhilfe der Wiener Caritas listet als Argument pro betreutes Wohnen die möglichen Herausforderungen für ehemalige Straßenmenschen auf: Sich beim betreuten Wohnen bewerben; einige Monate auf einen freien Platz warten; in die Trainingswohnung einziehen; sich am Meldeamt anmelden; sich an die Wohnung gewöhnen; lernen, regelmäßig seinen Zahlungen nachzukommen; ausprobieren, wie man Frieden mit der Nachbarschaft hält; Berge von angesammelten Schulden ordnen und wieder in den Griff bekommen; über Krisen hinwegkommen; sich körperlich und psychisch stabilisieren; den Umgang mit Alkohol verändern; zurück zu Tagesstrukturen und Beschäftigung finden; auf Ämtern und Behörden seine Angelegenheiten durchsetzen; die deutsche Sprache erlernen; wieder Kontakt zu Familienmitgliedern und Bekannten knüpfen; den Haushalt führen lernen; Lebensperspektiven für die Zukunft finden; Selbstvertrauen und Selbständigkeit gewinnen; den Gemeindewohnungsantrag schreiben; Ausziehen aus der Trainingswohnung; sich am Meldeamt ummelden; die Zeit alleine ohne Betreuung genießen … Die Hilfe suchende Person durchlaufe im betreuten Wohnen gleichsam einen vorgegebenen Hilfeprozess, an dessen Ende (im Erfolgsfall, die Red.) die verheißene, veränderte neue Lebenssituation stehe. Das Betreute Wohnen ist so gesehen eine Art soziale Reparatureinrichtung. (aus www.caritas-wien.at). Und was, wenn Attila allen aufgezählten Herausforderungen ohne vorgegebenen Hilfeprozess gewachsen wäre? Warum gehen Wohnungslosenhelfer wie selbstverständlich davon aus, dass dieser Grad von Mündigkeit nur mit ihrer Hilfe zu erreichen sei?

Im multikulturellen Siebenbürgen aufgewachsen, spricht Attila M. Rumänisch, Ungarisch, Französisch und Deutsch fließend, weitere Sprachen ganz passabel. Er hat in seinem Leben vor dem Absturz viele Qualifikationen erworben und Berufe erlernt. Trotz seiner 47 Jahre hätte Attila gute Voraussetzungen, via AMS einen Job zu finden. Wenn er eine Wohnung hätte, stünde er schon mit beiden Beinen in einem Beruf, meint Attila. Einen Obdachlosen wird kein Personalchef dieser Stadt den anderen Bewerbern vorziehen, fügt er hinzu. Das System, das ihm das Wohnrecht nimmt, stiehlt ihm somit die Chance der Reintegration in den Arbeitsmarkt stattdessen schickt es ihn in ein Jobbewerbungstraining nach dem anderen. Das soll gesund sein? Attila M. ist nicht der Einzige, der solche Fragen stellt.

P. S. Sollte dieser Beitrag zum Widerspruch reizen, erklärt die Redaktion die Debatte Betreutes Wohnen für eröffnet …

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