«Gemeinheiten» sind erlaubtvorstadt

Doris Mader ist mit dem Tischtennisschläger aufgewachsen. Sie holte Edelmetall bei Großereignissen
und hat als erste Rollstuhlfahrerin die staatliche Prüfung zur Tischtennistrainerin abgelegt. Ein Sportkellerbesuch.
Recherche: Darja Novak, Text: Reinhold Schachner, Fotos: Heinz Tesarek

«Die Ohren müssen auch mitspielen!», lässt die Trainerin ihren Schützling wissen. Beim Tischtennis kann der Klang, wenn der Ball auf den Schläger trifft, verraten, ob die Technik sauber ausgeführt worden ist, oder eben nicht. Henrik Andersson, 23 Jahre alt, hat erst vor gut eineinhalb Jahren mit dem Tischtennissport begonnen. Er hat bereits ein Level erreicht, das für manche nichtbehinderte Tischtennisspieler_innen Wunschtraum bleiben wird. Vor seinem schweren Unfall spielte Henrik Landhockey.
Erkannt hat dieses außergewöhnliche Talent Doris Mader, die Henrik seit vergangenem Sommer trainiert. Sie selbst holte im Rollstuhltischtennis viele Medaillen bei Großveranstaltungen, doch nicht Edelmetall, sondern ein spezielles Match war «der Schlüsselmoment in meiner Karriere», schildert die Sportlerin. Quian Li habe vorher jahrelang kein einziges Match verloren, bis sie sich bei den Paralympics 2012 in London im Viertelfinale geschlagen geben musste. Mit diesem Triumph, der in der Tischtennisszene als Weltsensation verbucht worden ist, war die Niederlage im Finale gegen die unberechenbare Anna-Carin Ahlquist erträglich. Für Fachinteressierte: Die Schwedin spielte auf der Vorhand lange und auf der Rückhand kurze Noppen!
Während der Vorbereitungen auf die Paralympics in Rio 2016 wurde Doris Mader wieder von starken Schmerzen geplagt. Zuerst dachte sie, die Schmerzen würden vom Übertrainiertsein herrühren, doch es bildet sich erneut ein Tumor. Unter diesen Umständen war auch nicht mehr an Leistungssport zu denken, vielmehr geht es Doris Mader jetzt darum, den Alltag trotz der Schmerzen bewältigen zu können, beispielsweise «ein-, zweimal in der Woche mit dem Auto zu fahren».

Unerklärliche Leistungseinbußen.

Bereits als Siebenjährige hat sie mit dem intensiven Tischtennistraining begonnen, und es sei unter der Anleitung ihres Vaters schnell in Richtung Leistungssport gegangen. Mit zwölf musste sie erste und unerklärliche Leistungseinbußen hinnehmen: «Mein Vater und ich wussten nicht, was los ist. Wir sind zu allen möglichen Ärzten gelaufen, aber es ist dabei nichts rausgekommen.» Sie sei halt unsportlich, sie sei halt zu langsam, so der Tenor der ärztlichen Rückmeldungen. Neben den langsamer werdenden Beinen ließen auch die Bauchmuskelfunktionen nach, und die junge Sportlerin versuchte dieses Manko mit größerem Trainingspensum zu kompensieren. Erfolglos, denn «in der Pubertät haben mich die anderen überholt». Sie schlüpfte daraufhin in die Rolle des «Zugpferdes» und der Trainerin für die Mädchenteams ihres damaligen Wiener Vereins.
Erst 2002, somit mehr als zehn Jahre, nachdem sich die ersten Mobilitätseinschränkungen bemerkbar gemacht hatten, musste bei ihr ein Tumor festgestellt werden. Bei seiner Entfernung vom Rückenmark passierte die inkomplette Querschnittslähmung ab dem sechsten Brustwirbel. Die anschließende Reha dauerte beinahe ein Jahr. 2004 hat Doris Mader wieder die ersten Turniere gespielt, aber nicht mehr stehend, sondern in der Klasse 3, und somit in der mittleren von insgesamt fünf Klassen im Bereich Rollstuhltischtennis. Spieler_innen der ersten Klasse haben keine Handgelenksfunktion und müssen daher mit angebundenem Schläger spielen. Jene aus der Klasse 5 können teilweise sogar gehen, würden aber ein Match nicht stehend bewältigen. «Ich bin genau in der Mitte, denn ich habe keine Probleme mit den Armfunktionen, aber keinerlei Funktion in den Beinen und keine Rumpfstabilität.»
Bereits im zweiten Jahr ihres Comebacks holte sich Doris Mader bei der Europameisterschaft die Silbermedaille. Mit diesem Erfolg im Rücken entschloss sie sich hinsichtlich der Paralympics 2008 «alles andere für Tischtennis zu opfern». Sie sollte in Peking noch den fünften Platz belegen.

Kurz-lang.

Die Trainerin spielt für Henrik abwechselnd einen Ball kurz, einen lang. Das sei eine Grundlagenübung für Rolli-Tischtennis, erläutert Doris Mader, denn die Spielschulter müsse mitarbeiten, dürfe nicht passiv bleiben. Auch das Handgelenk wird von Spieler_innen im Rollstuhl ungleich intensiver eingesetzt, doch die zwei fundamentalen Unterschiede betreffen – das Rollstuhlhandling mal außen vor gelassen – den flacheren Absprungwinkel und die kürzere Flugdauer des Balls. Diese beiden Parameter sind von enormer Bedeutung, so sehr, dass sich nichtbehinderte Sparingpartner_innen mit einem Sessel zum Tisch sitzen, «um das Spiel im Rolli zu simulieren», erläutert Doris Mader.
Bei den Regeln gibt es nur einen Unterschied im Vergleich zum Tischtennis für Nichtbehinderte: Der Ball muss nach dem Service die Grundlinie auf der Seite der Rückschlägerin passieren können – sofern der Ball nicht vorher von der Rückschlägerin berührt wird. Aber danach sind alle «Gemeinheiten» wie Bälle im extremen Winkel über die Seitenlinie erlaubt.
Mittlerweile steht das Abschlagtraining auf dem Programm. Henrik knallt die Bälle auf die andere Tischhälfte, als gäbe es kein Morgen, doch dem großen Krafteinsatz muss er etwas Tribut zollen, es zwickt im Rücken. Doris Mader erklärt den Sportreportern, es sei auch sehr wichtig, sich die Kraftreserven gut einzuteilen, denn «für Menschen im Rolli ist die Phase nach dem Trainingsende, also duschen, umziehen, Rollstuhl zerlegen und ins Auto verladen und sich selbst ins Auto begeben, viel anstrengender».

Außergewöhnliche Nachbarschaft.

Dieses Mal hat es Doris Mader relativ gemütlich, wegen COVID-19 wurde das Training in den Keller ihres Wohnhauses in Gänserndorf verlegt. Über den eigentlichen Trainingsort wurde vorsorglich und verständlicherweise, noch vor den Erlässen der Regierung, ein Sportverbot verhängt. Normalerweise findet es nämlich im AUVA-Rehabilitationszentrum in Klosterneuburg statt. Doris Mader leitet dort die Tischtennissektion des BSV Weißer Hof und trainierte zuletzt drei Stehende mit Behinderung und fünf Rollstuhlfahrer, aber nicht in einem Turnsaal, wie man vermuten würde, sondern in engster Nachbarschaft mit der dort betriebenen Cafeteria. Intensiver benachbart als in einem Kleingartenverein, denn es gibt nicht einmal einen Sichtschutz. Nur ein Auffangnetz trennt die Tischtenniszone vom Gastrobereich. Doris Mader schildert die dortige Atmosphäre, und unser Fotograf beginnt sich grün und blau zu ärgern, dass ihm das Coronavirus Aufnahmen von diesem Setting verunmöglichte. Mader erzählt von Kaffeegeruch und Ansagen aus der Küche wie: «Das Schnitzel ist fertig.» Entlassungen aus der Reha würden dort mit Speckbrötchen bei Zieharmonikaklängen gefeiert, und «es gibt rührende Begegnungen – zum ersten Mal mit Behinderung». Kurzum, «dort oben ist alles». Fürs Trainieren seien diese Umstände «natürlich fordernd», doch es gebe auch einen Vorteil: «Besucher und Patienten sehen, dass man im Rollstuhl aktiv und flott Sport ausüben kann, dass man nicht an den Rollstuhl gefesselt ist – wie man oft hört. Vieles ist anders, man muss sich umstellen.»
Doris Mader verweist an dieser Stelle auf die Umsiedlungspläne der AUVA. Das Rehazentrum Weißer Hof soll ab 2026 in verkleinerter Form ins Unfallkrankenhaus Meidling integriert werden. «Ewig schade, denn es gibt in Europa nicht viele Kompetenzzentren für Querschnittslähmungen auf diesem hohen Niveau.» Für die ehemalige Patientin ist das ein falsches Signal, man brauche sogar mehr Plätze.»

Professionalisierung im Sport.

Nicht nur der Bereich Tischtennis, generell konnte sich in Österreich der Behindertensport mit den Paralympics 2016 noch mehr professionalisieren, so Doris Mader. «Bei allen ist der Trainingsumfang gestiegen, und eigene Physiotherapeut_innen und Mentalcoaches gehören mittlerweile auch dazu. Wenn man alles zusammennimmt, also Kraft-, Ausdauer- und Mentaltraining und die Videoanalysen ist es ein Fulltimejob.»
Es habe sich auch in finanzieller Hinsicht etwas getan, immerhin gebe es jetzt auch Heeressportler mit Behinderung, aber in Summe würden in Österreich nur ganz, ganz wenige mit Behinderung von ihrem Sport leben können. Immerhin erhalten die Sportler_innen jetzt mehr Zuschüsse aus den Fördertöpfen und müssen nicht mehr alles selber bezahlen.
Dagegen seien die Sportstätten noch ein großes Thema, «weil viele noch nicht so aussehen, wie man es sich wünschen würde», meint die Vize-Olympiasiegerin und erzählt: «Früher habe ich in Wien gelebt und hätte in der Meisterschaft mit den Stehenden spielen können, wäre die Barrierefreiheit gegeben gewesen. Viele Tischtennishallen befinden sich im Keller, oder die Toiletten sind zu eng, um mit dem Rolli reinzukommen.»

Fernziel: Los Angeles.

Henrik lebt in Wien, im Nachbarhaus seiner Eltern ist ein Tischtennisraum eingerichtet und seine Mutter fungiert quasi als Assistenztrainerin. Glücklicherweise kommt sie vom Tennis und kann daher auch mit einem Tischtennisschläger passabel umgehen. Sonst muss Henrik zum Weißen Hof, der zwischen Klosterneuburg und St. Andrä-Wördern liegt, zur Trainerin nach Gänserndorf oder nach Wiener Neustadt fahren, weil es für ihn in Wien keine akzeptablen Trainingsmöglichkeiten gibt.
Auf Dauer beschwerliche Wege zu seinem Ziel, der Teilnahme bei den Paralympics 2028 in Los Angeles. Genügend Talent bringt Henrik Andersson jedenfalls mit. Und eine bessere Trainerin wird er kaum finden, denn Doris Mader ist die erste – unter allen Rollstuhlfahrer_innen in Österreich – staatlich geprüfte Tischtennistrainerin. 

bsv-tischtennis.at
henrikandersson.at