Der Konsum ist offenbar das Einzige, was die Nachbarstädte České Velenice und Gmünd seit 25 Jahren verbindet. Aber es gibt Hoffnung an der tschechisch-österreichischen Grenze, berichtete Ende letzten Jahres Corinna Anton (Text und Foto) für die Prager Zeitung (Nr. 51/52), die freundlicherweise dem Augustin diese Reportage zur Verfügung stellte.
Manche Dinge ändern sich sofort, wenn man die Grenze überquert. In Gmünd riecht es nach frisch geschnittenem Holz. Autos und Lastwagen halten am Zebrastreifen für Fußgänger_innen an. Und die Bäcker verkaufen Kolatschen und Nusskipferl. Ein Plakat bittet mit dem Spruch «Heimat bist du großer Flüchtlinge» um Spenden. Am Marktplatz werden, umgeben von herausgeputzten Fassaden in Pastelltönen, Buden und Bäume für den Weihnachtsmarkt aufgebaut. Ein paar hundert Meter weiter westlich reiht sich in České Velenice ein Nachtklub an den anderen, dazwischen Kasinos, Nagelstudios, Ramschläden.
«Heute fünf Mädchen» steht auf Deutsch auf einer Tafel an einer Hauswand. Davor spielen zwei Jungen im Grundschulalter mit Ästen, die sie auf die Straße werfen. «Mit den Heiligen durch Gratzener Bergland», heißt es holprig übersetzt auf einem Zettel im DIN-A4-Format. «Die Kirchen stellen für die Mehrheit von uns nur Bauten dar. Wir kennen oft nicht einmal ihre Namen und Geschichten, geschweige die Schicksale von Heiligen.» Daneben hängt die tschechische Version der Einladung zum Vortrag im tschechisch-österreichischen Zentrum Fenix.
Wie Phönix aus der Asche ist Fenix in der Grenzstadt České Velenice aus einem alten Kino erstanden. Knapp 23 Millionen Kronen (etwa 850.000 Euro) kostete der Umbau, fast 17 Millionen zahlte die EU, fünf Millionen die Stadt, der Rest kam aus dem Staatshaushalt. Seit Februar 2014 stehen die Türen für Tschech_innen und Österreicher_innen offen. Es soll die bilateralen Beziehungen «von unten verstärken», schreibt die Partnerstadt Gmünd. Fenix soll helfen, dass zusammenwächst, was einmal zusammengehörte.
Aus der Luft sieht die 3000-Einwohner_innen-Stadt České Velenice noch heute aus wie ein Vorort des etwas größeren Gmünd. Bis zum Ersten Weltkrieg war das auch so. Seit 1907 verbanden Busse mit Oberleitung – zu der Zeit eine kleine Sensation – das Rathaus in Gmünd mit dem damaligen Hauptbahnhof, der im heutigen České Velenice lag. Etwa eine halbe Stunde brauchten sie für die 2,3 Kilometer lange Strecke.
Doch 1919 ordnete der Friedensvertrag von Saint-Germain die Grenzen neu. Das Gebiet um den Hauptbahnhof wurde der Tschechoslowakei zugesprochen und bald darauf in České Velenice umbenannt. Als die Nationalsozialisten im Oktober 1938 das Sudetenland besetzten, machten sie daraus wieder Gmünd-Bahnhof. («Die historische Grenze zwischen Böhmen und Niederösterreich wird wieder hergestellt», formuliert es die Stadt Gmünd bis heute auf ihrer offiziellen Internetseite.) Nach dem Krieg wurde České Velenice dann wieder tschechisch und bis 1989 durch den Eisernen Vorhang von Gmünd getrennt.
Mehr als ein Vierteljahrhundert ist seitdem vergangen – genug Zeit, sich als Nachbar_innen näherzukommen? Lucie Císařová schüttelt den Kopf. «Nein, die beiden Städte sind sehr wenig zusammengewachsen, dafür dass es schon 26 Jahre sind. Wir fahren gegenseitig zu den anderen zum Einkaufen, aber das war es auch schon. Nur der Konsum verbindet uns.» Císařová ist in České Velenice groß geworden. Nachdem sie zehn Jahre in Prag gelebt hatte, zog sie wieder zurück, damit auch ihre Kinder auf dem Land aufwachsen. «In der Großstadt kann man die
Kinder nicht allein rauslassen, hier können sie allein zur Schule gehen», sagt die 34-Jährige. Natürlich locke die Grenze Kriminelle an, meint sie. Es sei unangenehm gewesen, zu sehen, wie junge Frauen auf der Straße standen und auf Kundschaft aus Österreich warteten. Aber das habe sich gebessert, seit die Stadt mit Sicherheitsdiensten zusammenarbeite.
Mühen mit der Sprache
Lobenswert sei das Engagement der Stadt auch bei der Kinderbetreuung, findet Císařová, die drei Jahre ehrenamtlich ein Mütterzentrum leitete und nun für diese Arbeit von der Stadt bezahlt wird. In den Räumen des Fenix bietet Císařová Turnen und Bastelkurse für Kinder und Eltern an, auch grenzüberschreitend. Von drüben kommen allerdings nur einzelne Teilnehmer_innen, meist Tschechinnen, die mit Österreichern verheiratet sind, und ein paar Großeltern mit ihren Enkeln. Die Kinder verständigen sich ohne Worte, die Erwachsenen auf Englisch, weil sie die Sprache der Nachbar_innen kaum können.
An den weiten Wegen kann das nicht liegen. Fußgänger_innen brauchen nur fünf Minuten von der einen Seite auf die andere. Wäre nicht unter dem Ortsschild von Gmünd ein dunkelblaues Schild mit gelben Sternen und der Aufschrift «Republik Österreich – EU» angebracht, auf das jemand ein Herz in den Landesfarben Rot und Weiß geklebt hat, man würde beim Spaziergang nicht merken, dass man sich schon im Ausland befindet. Etwa zwei Kilometer nordöstlich, am Übergang für Autofahrer_innen, stehen zwar noch die Grenzhäuschen. Die Rollläden sind auf der österreichischen Seite jedoch heruntergelassen, am Fenster klebt ein Zettel: «Werbefläche gegen Sach- beziehungsweise Geldspende für das Jugendzentrum.»
Kein Grenzer weit und breit, in Österreich haben sie derzeit wohl wichtigere Aufgaben, als den Übergang nach České Velenice zu sichern. Auf der tschechischen Seite stehen ein paar Polizeiautos. Zwei Männer mit gelben Warnwesten winken ein Fahrzeug nach dem anderen durch.
Zdenka und Kateřina Šollarová haben auch ihre Mühen mit der deutschen Sprache. Die beiden Frauen, Mutter und Tochter, singen in České Velenice in einem Chor, der sich «Glamini» nennt. Das soll ein bisschen an Gladiolen erinnern, «die Blumen der Frauen», wie sie finden. Sie proben Evergreens aus aller Welt, aber ausschließlich auf Tschechisch, sagt die 65-jährige Zdenka, die sich nach eigenem Bekunden schon ihr Leben lang für die örtliche Kultur engagiert. Sie bezeichnet sich als Lokalpatriotin. «Ich lebe gerne hier, egal was ist.» Stolz erwähnt sie die Busse mit Oberleitung, die schon vor mehr als 100 Jahren in der Stadt gefahren seien. Gebaut hatte sie damals übrigens die Firma Daimler aus Wien, ist im Ort auf Deutsch und Tschechisch auf einer Schautafel zu lesen.
Seit die Grenze nach Gmünd geöffnet ist, sei České Velenice aufgeblüht, Straßen und Häuser wurden repariert, alles «sehr schön» gemacht, sagt Zdenka Šollarová. Zum Einkaufen oder zum Adventsmarkt fährt die Familie nach Österreich, manchmal auch ins Schwimmbad (wo man kein Deutsch braucht, weil dort ohnehin viele Tschech_innen arbeiten), zum Spazieren oder für eine Untersuchung ins Krankenhaus. Dort gebe es tschechische Ärzt_innen und Übersetzer_innen, erzählt die 37-jährige Kateřina. Viele Österreicher habe sie auf der tschechischen Seite getroffen, als sie noch in der Apotheke arbeitete. Etwa 90 Prozent der Kunden seien aus dem Nachbarland gekommen, meistens Männer. In der Stadt gibt es einen
Wegweiser: Bahnhof, Post, Polizei, Rathaus, Sportplatz und Kirche sind ausgeschildert, alles auf Tschechisch. Nur neben der Aufschrift «Lékárna» steht auch die deutsche Übersetzung: Apotheke.
Persönliche Kontakte in die Nachbarstadt haben Zdenka und Kateřina Šollarová nicht. Bei all dem Engagement für die Kultur in České Velenice fehle ihnen die Zeit, sagen sie. Bei der Frage, ob die Städte zusammengewachsen seien, zögern sie. «Ja», meint die Tochter, beim Festival «Übergänge – Přechody» könne man ein ganzes Wochenende lang erleben, wie die Kultur beide Seiten verbinde. Das Festival findet alle zwei bis drei Jahre statt.
Die Menschen öfter zusammenzubringen als alle paar Jahre zu einem Festival zählt zu den Aufgaben von Kateřina Žajdlíková. Die 29-Jährige kommt aus Ostrava, lebt in Třeboň und leitet das Zentrum Fenix mit einem «Blick von außen», wie sie sagt. Noch riecht es neu in den Räumen, die mit Hilfe von EU-Geldern renoviert wurden, alles blitzt und funkelt. An der Decke ist ein Flachbildfernseher befestigt. Die Sitze im Multifunktionssaal sind mit samtrotem Stoff gepolstert, alles sehr einladend.
Abstraktes Europa
Dass die Österreicher_innen nur zögerlich zu Kulturveranstaltungen nach České Velenice kommen, kann weder an der Ausstattung noch an der Sprachbarriere liegen. Im Fenix steht bei Vorträgen immer ein Übersetzer bereit. «Man muss das Bild ändern, das die Österreicher von den Tschechen haben», meint Žajdlíková. «Wir müssen zeigen, dass wir hier etwas haben, das sich zu besuchen lohnt.» Ob ihr das mit Fenix gelingt, will sie zehn Monate nach der Eröffnung noch nicht beurteilen (Mittlerweile sind seit der Eröffnung 13 Monate vergangen, Anm. d. Augustin-Red.). «České Velenice muss selbst erst lernen, zu funktionieren und seinen Platz zu finden, sich selbst als Stadt zu mögen», glaubt die Musikwissenschaftlerin, «auch wenn die Einheimischen das vielleicht nicht so wahrnehmen.» Die Vorstellungen von einem geeinten Europa seien abstrakt, die komplizierte Geschichte der Stadt und die lange mit Stacheldraht gesicherte Grenze dagegen nah.
Jan und Tereza überqueren diese Grenze fast jeden Tag. Beide sind 17, wohnen in České Velenice und gehen auf der Handelsakademie in Gmünd zur Schule. Dort werden sie in ein paar Monaten Abitur in Deutsch und Englisch sowie Tschechisch oder Französisch machen. Sie wollen nicht unbedingt im Ausland arbeiten, aber sie hoffen, dass sie mit den Fremdsprachen auch zuhause bessere Berufschancen haben. Dass Österreich so nahe liegt, bezeichnen die beiden als Vorteil. Weil er in Österreich zur Schule, zum Sport und in die Kneipe gehe, meint Jan, habe er dort mittlerweile mehr Freunde als in Tschechien.
Der Weg zurück zum Bahnhof führt an einem Denkmal vorbei, auf dem in kyrillischen Buchstaben «Danke» steht, darüber ist ein Sowjetstern angebracht. Auf der anderen Straßenseite erinnert eine Plakette daran, dass der von Kastanien gesäumte Fußweg 2012 zur «Allee des Jahres» im Kreis Südböhmen gekürt wurde.
Zwischen den kahlen Bäumen sind ein paar Roma unterwegs. Kurz vorher hat eine Einheimische gesagt, was sie störe in České Velenice, das sei die Minderheit hier. Die Roma kommen vom Einkaufen, sie überqueren die Straße. Am Zebrastreifen bremst ein Auto und lässt sie passieren. Es hat ein tschechisches Kennzeichen.