Gemeinsam gegen Leerstandvorstadt

In Berlin haben Mitte Dezember Obdachlose gemeinsam mit Aktivist_innen ein leer stehendes Haus besetzt. Wie es weiter­geht, bleibt spannend, denn Bezirksamt und Eigentümer streiten vor Gericht über den Abriss des Hauses.

Text: Lukas Gilbert
Fotos: Sabine Mittermeier

Pinsel sitzt auf ihrem karierten Sofa und ist glücklich. Zu ihren Füßen hat es sich ihr Hund Omiro gemütlich gemacht. Seit einigen Tagen nennt die 32-Jährige eine kleine Zweizimmerwohnung in Berlin-Mitte ihr Zuhause. Jahrelang lebte sie auf der Straße oder bei Bekannten. Jetzt hat sie endlich Ruhe und Privatsphäre. Kann die Tür hinter sich schließen. Vor allem aber sei es die Erfahrung, die sie beflügelt, sich die Wohnung selbst erstritten zu haben: «Das Gefühl ist kaum in Worte zu packen.» Gemeinsam mit anderen Obdachlosen und Aktivist_innen hat sie das Haus in der Habersaathstraße 40-48, in dem ihre neue Wohnung liegt, besetzt. Jahrelang stand es so gut wie leer. Ganz praktisch etwas gegen den Leerstand in der Stadt tun. Aus diesem Grund haben sich vor rund zwei Jahren politische Aktivist_innen und Obdachlose in Berlin zusammengeschlossen. Das Besondere: Sie arbeiten gemeinsam und auf Augenhöhe. «Die Idee war: Nicht Aktivist_innen machen das für andere, sondern wir machen das zusammen und erkämpfen uns das Haus gemeinsam», ergänzt Valentina (Name geändert), eine der Aktivist_innen, die sich auf das Sofa neben Pinsel gesellt hat: «Das hat gut funktioniert.» Pinsel ergänzt: «Wir sind zusammen auf Platten und in Obdachlosenheime gegangen und haben Bescheid gesagt, was wir hier vorhaben.» Anfangs lief es zwar auch holprig, schließlich seien doch recht unterschiedliche Charaktere aufeinandergetroffen. Trotzdem feiert die Gruppe jetzt ihren größten Erfolg: Die Obdachlosen dürfen bis auf Weiteres bleiben. Das hat der zuständige Bezirk Berlin-Mitte mit dem Eigentümer vereinbart. Vor einigen Monaten sah das noch anders aus. Damals hatten sie das Haus in der Habersaathstraße schon einmal besetzt, wurden aber direkt wieder geräumt.

Absurditäten des Wohnungsmarktes.

Zu DDR-Zeiten diente der fünf­stöckige, graue Plattenbau der naheliegenden Charité als Schwesternwohnheim. Als in Berlin 2006 die Kassen leer und Privatisierungen im Trend waren, verkaufte die Stadt unter dem damaligen SPD-Finanzsenator Thilo Sarrazin das Haus für zwei Millionen Euro an einen privaten Investor. 2018 verkaufte der es an den heutigen Eigentümer weiter. Laut Medienberichten zum zehnfachen Preis. Frei werdende Wohnungen lässt der heutige Eigentümer offensichtlich leer stehen, nur in einigen wenigen der rund 100 Wohnungen leben noch alteingesessene Mieter_innen. An dem Haus zeigen sich die Absurditäten des Wohnungsmarktes. Erst 2008 wurde es energetisch saniert. Auf dem Dach befindet sich sogar eine Photovoltaikanlage, um das Haus mit Energie zu versorgen, berichten die Besetzer_innen. In den leer stehenden Wohnungen funktionieren Strom, Heizung und Wasser. Sogar möbliert und mit Fernsehern ausgestattet sind einige der Apartments. Trotzdem lohnt es sich für den Eigentümer offensichtlich, die Wohnungen nicht zu vermieten und stattdessen darauf zu spekulieren, das Haus abreißen zu können. Wohl um Luxusapartments an gleicher Stelle zu errichten. Gegenüber Hinz&Kunzt äußert er sich nicht, doch in Berliner Medien ist der Plan seit Jahren Thema. Einzig am Widerstand des Bezirks scheiterte er bislang. Der erteilt nämlich keine Abrissgenehmigung. Allerdings ist es dem Bezirk bislang auch nicht gelungen, den Leerstand zu beenden. Das haben nun die Besetzer_innen geschafft.

Renovierung und Mediation.

Zeit, sich von den Strapazen auf der Straße auszuruhen, bleibt Pinsel und den anderen Bewohner_innen bisher kaum. Es gibt einiges zu tun im frisch bezogenen Haus: Zimmer müssen zugeteilt werden. Ein Gemeinschaftsraum wird hergerichtet. Einige Bewohner_innen planen zudem, eine Fahrradwerkstatt aufzubauen. Pinsel denkt darüber nach, eine Mediationsgruppe zu gründen – um mögliche Konflikte im Haus gar nicht erst hochkochen zu lassen. Auch das sogenannte Kiezbüro, eine zur Hauszentrale umgewandelte Einzimmerwohnung im Hochparterre, ist rund um die Uhr besetzt. Die Bewohner_innen sollen jederzeit eine_n Ansprechpartner_in haben. Dort herrscht reges Treiben. Drei Männer, allesamt frischgebackene Hausbewohner, schauen gerade eingetroffene Essensspenden durch: Mehrere Kisten mit Brötchen hat jemand vorbeigebracht, jetzt stapeln die sich neben Mandarinen und anderen Nahrungsmitteln. Vor dem Haus fahren derweil immer wieder Autos vor. Aus ganz Berlin und sogar darüber hinaus kommen Menschen mit Spenden. Gerade parkt ein junger Mann seinen Wagen und bringt Decken und eine Kaffeemaschine. Er habe im Fernsehen von dem Projekt erfahren und sich direkt ein paar Sachen geschnappt. «Vor ein paar Tagen kam jemand von einem Messeverleih aus Essen mit seinem Lkw angefahren und hat Küchen vorbeigebracht», erzählt Aktivistin Valentina. Ein Hertha-BSC-Fanclub habe Rauchmelder für das gesamte Gebäude gespendet. Und was sagt die Nachbarschaft über die Zugezogenen? «Wir hatten eine Kundgebung zum Einzug. Da kamen Nachbar_innen und haben spontan gesprochen, haben sich bedankt und sich sehr gefreut, dass hier endlich wieder Leben in der Straße ist», sagt Valentina. Die verbliebenen Mieter_innen würden sich ebenfalls über die neuen Bewohner_innen freuen und mit anpacken. Und auch Pinsel hat das Gefühl, gut aufgenommen zu werden. Professionelle Unterstützung in der neuen Wohnung bekommen die Bewohner_innen durch einen sozialen Träger, der mit ins Haus eingezogen ist und den die Gruppe gemeinsam mit dem Bezirksamt ausgesucht hat. Mitarbeiter_innen von Neue Chance Berlin sind in einem Büro im Haus für die Bewohner_innen erreichbar und beraten sie, wenn sie das wollen. Der Träger ist neben der Habersaathstraße auch am Berliner Housing-First-Modellprojekt beteiligt. «Für uns war wichtig, dass die Menschen hier selbstbestimmt leben können», sagt Aktivistin Valentina, und «dass es zwar Unterstützungsangebote gibt, die aber nicht verpflichtend sind.»

Vor Gericht.

Wie es in Zukunft weitergeht in der Habersaathstraße, ist momentan noch völlig offen. Bezirk und Eigentümer verhandeln über das weitere Vorgehen und streiten vor Gericht über den Abriss. Nach Angaben des Bezirks können die Obdachlosen mindestens bis Mitte April bleiben. Und dann? Für Valentina steht fest: «Das Ding muss wieder fit gemacht werden und mit den Leuten, die hier jetzt wohnen, weiter bewohnt werden. Es kann nicht sein, dass das Haus abgerissen wird», findet sie. «Das wird der nächste Kampf sein, den wir führen müssen.»

https://strassegegenleerstand.de
Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Hinz&Kunzt / International Network of Street Papers