Klimazone (Oktober 2023)
Diesen Herbst wartete ich sehnsüchtig auf kühleres Wetter. Einerseits natürlich, weil mir Nachrichten wie jene, dass der September der global wärmste jemals gemessene war, Sorge bereiten. Aber andererseits bin ich auch viel simpler gestrickt: Ich will einfach wieder Platz am Radweg haben. Und je kälter es wird, desto mehr Platz bekomme ich. Dass ich den Hauch von Radinfrastruktur im Sommer mit Schönwetterradlerinnen und -radlern teilen muss, daran habe ich mich gewöhnt. Dass im Oktober immer noch Horden von Fahrrädern und E-Mopeds auf «meinen» Radwegen unterwegs sind, empfinde ich schön langsam als persönlichen Angriff. Dabei sollte ich mich eigentlich darüber freuen. Im ersten Halbjahr dieses Jahres waren laut Verkehrsclub Österreich 5,6 Millionen Radfahrerinnen und Radfahrer in Wien unterwegs. Ein neuer Rekordwert.
Es ist also was in Bewegung. Oder vielleicht sogar am Kippen? Neben den Klima-Kippunkten, die unwiderrufliche Folgen hätten, wie das Schmelzen des grönländischen Eisschildes oder das Absterben des Amazonas-Regenwaldes ist in letzter Zeit auch vermehrt von sozialen Kippunkten die Rede. Dabei handelt es sich um Veränderungen, die von Einzelnen angestoßen, sich rasch ausbreiten und in relativ kurzer Zeit zu einer Zustandsveränderung des Systems führen. In diesem Fall des sozialen Systems. Wie das Wirken einzelner Personen ausstrahlen kann, hat mir ein Photovoltaik-Pionier veranschaulicht, indem er sich mit mir auf die Straße gestellt und auf die Nachbardächer gezeigt hat. Nachdem er eine Photovoltaikanlage auf seinem Dach installiert hatte, folgten Jahr für Jahr die Nachbar:innen nach, erzählte er mir.
Was Elektroautos betrifft, hat Norwegen beispielsweise den sozialen Kipppunkt bereits erreicht. Dort sind 80 Prozent der Neuzulassungen rein elektrische Autos. Der Umstieg ist nicht mehr aufzuhalten. Ein Umstieg, der auch in anderen Ländern im Gange ist und der auch auf andere Sektoren ausstrahlen könnte. Werden mehr Elektroautos nachgefragt, dann wird auch die Batterietechnologie besser. Bessere und billigere Batterien befördern wiederum den Erneuerbaren-Ausbau. Ein Überschuss an erneuerbarer Energie könnte die Wasserstoffproduktion und die Dekarbonisierung des Stahlsektors befördern. Kaskadeneffekte entstehen. Der Wandel schaukelt sich auf. Natürlich muss das Ganze nicht so passieren. Es braucht dafür die richtigen Rahmenbedingungen: Gesetze beispielsweise oder gezielte Förderungen. Aber es kann passieren und das ist ein tröstender Gedanke. Denn man kann sich angesichts der Klimakrise und ihrer globalen Tragweite doch machtlos fühlen. Zumindest ich fühle mich oft so. Doch wir Menschen sind soziale Wesen und so kann das Verhalten einzelner auf das Verhalten anderer abfärben. Das hat auch bei mir funktioniert. Klimafreundliche Ernährung hat mich zum Beispiel meine jüngere, aber in Supermärkten sehr überzeugende Schwester gelehrt. Daher versuche ich es auch stoisch zu nehmen, wenn «mein» Radweg wieder mal voll ist. Schön, dass ihr da seid. Vielleicht kippen wir gemeinsam schneller.