Der 7. Oktober hat auch in Österreich viel verändert. Seither häufen sich Meldungen über antisemitische und antimuslimische Übergriffe in verschiedenen Lebensbereichen.
«Nach langen Bemühungen fanden wir eine gemeinsame Sprache», sagte Reem Hajajreh am Abend des 6. Mai im großen Festsaal des Wiener Rathauses. Mit «wir» meinte die Leiterin der palästinensischen Organisation Women of the Sun die beiden Organisationen, die an diesem Abend gemeinsam auf der Bühne standen. Neben Hajajreh: Angela Scharf, Aktivistin der israelischen Bewegung Women Wage Peace, und deren Mitstreiterin Kefaia Msarwy, arabisch-muslimische Israelin. Im Rahmen der Wiener Vorlesungen sprachen sie über ihren seit Jahren dauernden gemeinsamen Einsatz für Frieden in der Region.
Msarwy hielt ihre Rede auf Hebräisch, erzählte von ihren verschiedenen Identitäten und den Widersprüchen, gerade derzeit. In der anschließenden Diskussion sprach sie Arabisch. «Zuallererst geht es uns um die Beziehung von Mensch zu Mensch, das ist die Grundvoraussetzung für unsere Existenz», sagte sie. Ihre gemeinsame Sprache haben sie – trotz mancher gravierender Unterschiede in den Sichtweisen und Lebensrealitäten – im Mothers Call gefunden: im Wunsch, ihren Kindern eine friedliche Zukunft bieten zu können. «Es ist unglaublich wichtig, die Menschen zu unterstützen, die für Frieden eintreten», so Reem Hajajreh.
Auswirkungen in Österreich
Die Pragmatik, mit der diese Frauen in den Dialog treten, ist bemerkenswert angesichts der Tatsache, dass es direkte Betroffenheit gibt. Anders gelagert gibt es Betroffenheit auch in Österreich. Seit dem 7. Oktober, als die Hamas – u. a. von der EU als Terrororganisation eingestuft – in Israel einfiel, fast 1.200 Menschen tötete, rund 240 als Geiseln verschleppte und in dem anschließenden Krieg, den Israel bis heute in Gaza gegen die Hamas führt und in dem bereits rund 35.000 Menschen getötet wurden, hat sich auch hier vieles verändert. Vor allem für Jüd:innen und muslimisch gelesene Personen. Viele von ihnen spüren große Feindseligkeit, die bis hin zu offenen Übergriffen reicht.
In informellen Gesprächen mit Jüd:innen verschiedener Altersgruppen erzählten mehrere davon, dass nicht wenige Personen in der Wiener Community seit dem 7. Oktober Angst hätten, auf die Straße zu gehen. In Gesprächen mit fremden Personen würden einige ihre jüdische Identität lieber verbergen. Die Kulturwissenschaftlerin Ariane Sadjed, die an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) das Forschungsprojekt «Veränderungen antisemitischer Diskurse und ihre Rezeption innerhalb jüdischer Gemeinden in Österreich» leitet, berichtet dem Augustin von jüdischen Jugendlichen, die nun in jüdische Schulen wechseln, da sie sich in der aktuellen Schule nicht mehr wohl fühlten. Solche Tendenzen bestätigt der Bericht der Antisemitismus-Meldestelle der Israelitischen Kultusgemeinde Wien aus dem Jahr 2023, die von einem Klima der Angst unter Jüd:innen schreibt, nachdem das Massaker der Hamas auch in Wien von nicht wenigen Personen auf offener Straße gefeiert worden war.
Insgesamt 1.147 antisemitische Vorfälle wurden 2023 registriert, knapp 60 Prozent mehr als im Vorjahr. Vom 7. Oktober bis zum 31. Dezember «musste eine Verfünffachung auf 8,31 antisemitische Vorfälle pro Tag festgestellt werden», schreibt die Meldestelle und geht auch von einer Dunkelziffer aus. Vor allem fallen laut Meldestelle E-Mails, Briefe, Aufrufe sowie Social-Media-Kommentare darunter, es gibt aber auch Gewaltverherrlichung, verletzendes Verhalten, Bedrohung und physische Angriffe, auch Mobbing in Schulen. Viele in Österreich lebende Menschen unterschiedlichster Backgrounds dachten allerdings schon vorher, dass Jüd:innen in ihrer gesamten Geschichte nicht nur zufällig so oft verfolgt wurden, sondern zum Teil selbst daran Schuld seien, wie der Antisemitismusbericht des Parlaments vom April 2023 angibt.
Übergriffe und Diskussionen
Die in Wien ansässige Dokustelle Islamfeindlichkeit und antimuslimischer Rassismus macht ebenfalls Monitoring und nimmt Meldungen auf. 1.324 Fälle von rassistischen Übergriffen gegen Muslim:innen und als muslimisch wahrgenommene Personen stellte sie laut Bericht 2022 fest. Diese reichen von Beleidigungen und physischen Attacken bis hin zu Diskriminierung im Job. Im November 2023 veröffentlichte die Dokustelle eine Presseausendung, um auf die Situation nach dem 7. Oktober aufmerksam zu machen: Nämlich, «dass nicht nur der Antisemitismus gestiegen ist, sondern auch der antimuslimische Rassismus, der im öffentlichen Diskurs leider viel zu wenig Raum bekommt, immer auch schon zu wenig Raum bekommen hat», sagt Dunia Khalil von der Dokustelle im Interview. Betroffene würden erzählen, sich nicht sicher zu fühlen, gemobbt zu werden oder in der Schule von Lehrenden aufgefordert zu werden, Stellung bezüglich Israel/Palästina zu beziehen. «Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass politische Ereignisse Auswirkungen auf Betroffene haben», so Khalil.
Es gibt, so schreibt die Dokustelle, Beschmierungen von muslimischen Einrichtungen und Wohnanlagen, verbale und nonverbale Übergriffe im öffentlichen Raum, Drohungen sowie Online- und Medienkommentare, die Muslim:innen mit Gewaltbereitschaft und Terror gleichsetzen oder ihnen die alleinige Verantwortung für Antisemitismus in Österreich zuschreiben. Teilweise würden antisemitische und antimuslimische Narrative gleichzeitig verbreitet.
Die Dokustelle bekomme auch Meldungen von Personen, die Angst hätten, ihren Job zu verlieren, wenn sie sagen würden, sie finden nicht in Ordnung, was in Palästina vor sich geht, erzählt Khalil. «Weil das ja passiert ist, dass Veranstaltungen abgesagt wurden, oder man keinen Zugang zu Events und Podiumsdiskussionen bekommt.» Es herrsche große Unsicherheit.
Auch unabhängig davon, welche politischen Einstellungen Personen haben, haben die palästinensisch-israelischen Ereignisse also Auswirkungen auf Menschen, die in Österreich leben. Die Frage nach der persönlichen Einstellung scheint aber ebenfalls in alle Lebensbereiche vorgedrungen zu sein. Personen, die sich in die Nähe von Friedenspositionen begeben, werden von manchen als entweder antisemitisch oder antipalästinensisch bezeichnet. Gleichzeitig findet eine große Debatte darüber statt, was genau als antisemitisch eingestuft werden soll und was nicht, vor allem in Bezug auf Kritik an Aktionen und politischen Entscheidungen Israels.
Dialogmöglichkeit
Ariane Sadjed vom ÖAW-Projekt erzählt, dass der Dialog schon vorher schwierig gewesen sei. Seit dem 7. Oktober sei Dialog nun teilweise unmöglich, was auch die wissenschaftliche Arbeit an dem Thema schwierig mache. Für ihr Projekt, das noch nicht abgeschlossen ist, hat sie nach dem 7. Oktober mit Jugendlichen gesprochen, die sich als jüdisch definieren. «Wir haben spezifisch gefragt, wie sich ihr Leben in Online-Medien verändert hat. Und da ging es darum: Jemand hat etwas gepostet, und dieser Person folge ich jetzt nicht mehr, mit der rede ich nicht mehr.» Es gehe dabei viel um bestimmte Schlagwörter. Das passiere auch zwischen Jüd:innen, also innerhalb der Community. «Es gibt ganz wenige Personen, die sagen, wir müssen uns zusammensetzen, in kleinen Gruppen, und das besprechen.» Allerdings, so betont sie, gäbe es auch jüdische Teenies, die erzählen, sie würden mit ihren muslimische Freund:innen einfach nicht so viel über das Thema reden: «Jeder weiß, dass der:die andere das vielleicht anders sieht, aber es ist nicht so aufgeheizt», so Sadjed. Die Erfahrungen sowie politischen Einstellungen innerhalb der Communities sind auch teilweise sehr unterschiedlich.
Der deutsch-israelische Philosoph Omri Boehm, der am 7. Mai die «Rede an Europa» auf Einladung der Wiener Festwochen hielt, fordert ebenfalls das Gespräch, um zukunftsfähig sein zu können. Auch die Dokustelle Islamfeindlichkeit und antimuslimischer Rassismus ist der Meinung: Der Spaltung der Gesellschaft muss man entgegenwirken.