Gendermedizin: Wo ungleiche Behandlung fair isttun & lassen

Sabine Ludwig, Direktorin des Instituts für Diversität in der Medizin an der Universität Innsbruck (Foto: © Daniel Jarosch)

Sabine Ludwig ist seit September die neue Direktorin des Instituts für Diversität in der Medizin an der Universität Innsbruck. Warum der Begriff Gendermedizin zu kurz kommt und welche Fragen an die Patient:innen sie ihren Medizinstudierenden mitgibt, erzählt sie im Gespräch.

 

Frage: Was ist Gendermedizin?

Sabine Ludwig: Es geht darum, dass sich Erkrankungen bei den verschiedenen Geschlechtern unterschiedlich manifestieren. Daher sind bei der Prävention, Diagnose und Therapiefindung andere Vorgehensweisen erforderlich, um eine bessere medizinische Versorgung zu etablieren. Dabei sind nicht nur die Unterschiede zwischen Männern und Frauen gemeint, sondern alle Geschlechter sind mit einbegriffen. In der Gendermedizin gehen wir von einem nicht-binären Modell aus. Es wäre eigentlich korrekter von geschlechtersensibler Medizin zu sprechen, wie es an einigen Hochschulen in Deutschland bereits der Fall ist. Manche plädieren überhaupt für den Terminus der diversitätssensiblen Medizin. Schließlich spielen auch Aspekte wie Alter, soziokultureller Hintergrund, Religion, Weltanschauung, sexuelle Orientierung, Behinderung usw. eine Rolle. Gesetzlich stützt sich der Auftrag der geschlechter- oder diversitätssensiblen Medizin hierzulande auf das Gleichbehandlungsgebot.

Wie ist dieser Fachbereich entstanden?

Die Gendermedizin stammt aus einer Bewegung um die Jahrtausendwende. Erst in den frühen 2000er-Jahren ist man langsam zu der Erkenntnis gelangt, dass es nicht zielführend ist, Frauen in der Medizin wie kleinere Männer zu behandeln. Bis in die 1980er und 90er stellte die Medizin eine starke Männerdomäne dar; Anatomiebücher orientierten sich fast ausschließlich am männlichen Körper. Erst durch die Frauengesundheitsbewegung wurde der Blick in der Forschung vermehrt auf die reproduktiven Organe und endokrinologischen Merkmale der Frau gelenkt. Später interessierte man sich für die Unterschiede beim Herz-Kreislauf-System. Im Jahr 2001 wurde schließlich die Organisation of Study of Sex Differences in New York gegründet. Später folgten in Europa unter anderem das 2003 von der Kardiologin Vera Regitz-Zagrosek ins Leben gerufene Institut für Geschlechterforschung an der Charité in Berlin und die Gemeinsame Einrichtungen für Gendermedizin an den Universitätskliniken Innsbruck unter der Leitung meiner Vorgängerin Margarethe Hochleitner. Seit 2010 gibt es einen Lehrstuhl für Gender Medicine unter der Leitung von Alexandra Kautzky-Willer auch an der Meduni Wien.

Können Sie ein paar konkrete Beispiele nennen, die veranschaulichen, warum wir geschlechtersensible Medizin brauchen?

Es gibt unzählige Beispiele, die sich dafür eignen würden. Schon die Pharmakodynamik und -kinetik, sprich was der Körper von Frauen und Männern mit den eingenommenen Arzneistoffen macht und welche Vorgänge sie im Körper auslösen, ist entscheidend für eine passende Behandlung. Anatomisch begründet, dauert der Transit von Medikamenten bei Frauen durch den Dickdarm länger. Dementsprechend verbleiben Wirk­stoffe länger im Körper einer Frau – wodurch sich erklärt, weshalb es notwendig ist, Arzneistoffe an beiden zu testen. Konkret fällt mir dazu das Schlafmittel Zolpidem ein, das bereits seit 1992 auf dem Markt erhältlich ist. Dennoch wurde erst 2013 eine höhere Restkonzentration des Wirkstoffes im Blut von Frauen am nächsten Morgen nachgewiesen. Seither wird eine angepasste Dosierungsempfehlung im Beipackzettel angeführt.
Weitere Differenzen finden sich bei psychischen Erkrankungen. Die Prävalenz von Depressionen und Angststörungen ist bei Frauen höher. Dennoch führen Männer häufiger erfolgreiche Suizidversuche durch. Bei Depressionen zeigt sich außerdem, unabhängig vom Geschlecht, eine deutliche Korrelation zum Bildungsgrad bzw. der sozialen Stellung. Um ein plakatives Beispiel zu nennen: Es gibt einen eindeutigen Zusammenhang zwischen den Rollenerwartungen an Mädchen und junge Frauen und der Entstehung von Essstörungen.
Darüber hinaus spielt das Immunsystem eine große Rolle. Autoimmunreaktionen betreffen Frauen in stärkerem Ausmaß als Männer, weil ihr Immunsystem heftiger reagiert. Im Akutfall, wie etwa bei einer Krebserkrankung, haben Frauen dadurch eine bessere Prognose. In der Pandemie konnten wir bei ­Männern eine höhere Sterblichkeit durch Covidinfektionen beobachten. Frauen leiden dann allerdings häufiger an Long Covid.
Interessant im Zusammenhang mit der Lebenserwartung ist der Umstand, dass Frauen in den wohlhabenden Industriestaaten im Schnitt älter werden. Das hat stark mit ihrem Präventionsverhalten zu tun. Sie kommen häufiger zu Vorsorgeuntersuchungen, ernähren sich meist gesünder und nehmen öfter an Angeboten zur Gesundheitsförderung teil. In einigen Ländern des globalen Südens verhält es sich genau umgekehrt. Hier leben ­Männer tendenziell länger. Ausschlaggebend ist da eher der Zugang zum Gesundheitssystem, der Frauen aufgrund ihrer finanziellen Abhängigkeit oft verwehrt bleibt.
Dass die Symptome bei einem Herzinfarkt zwischen Männern und Frauen variieren, ist inzwischen recht bekannt. Dieses Beispiel zeigt ganz deutlich, warum wir ein Bewusstsein für die geschlechtersensible Medizin schaffen müssen – nicht nur unter Ärzt:innen und Sanitäter:innen, sondern auch in anderen Gesundheitsberufen. Schließlich können Notfälle jederzeit und überall passieren.

Wie steht es mit dem Interesse der ­Öffentlichkeit für geschlechtersensible und diversitätssensible Medizin?

Die Relevanz von Studienergebnissen aus diesem Bereich wird in der wissenschaftlichen Community mehr anerkannt als früher. Ich sehe auch, dass das mit der generellen Öffnung der Gesellschaft für einen Diskurs über Diversität einhergeht. Für Transsexualität und Intersexualität und deren medizinische Implikationen kommt immer mehr Interesse auf. Insgesamt gibt es leider noch zu wenige Daten zur Gesundheit dieser Personengruppen. Einerseits liegt das an der geringen Fallzahl von Trans- und Interpersonen bezogen auf die Gesamtbevölkerung. Andererseits hat in der Vergangenheit keine ausreichende Sensibilisierung für das Thema stattgefunden. Wir bitten daher die Medizinstudierenden, ihren künftigen Patient:innen Fragen zu stellen, wie: Welches Geschlecht wurde Ihnen bei Ihrer Geburt zugewiesen? Und: In welchem Geschlecht leben Sie? Im österreichischen Frauengesundheitsbericht von 2022 wird Diversität als Aufgabengebiet explizit mitangeführt. In Zukunft sollen forschungsrelevante Daten systematisch mitgesammelt werden.

Welche anderen Versäumnisse müssen aufgeholt werden?

Die Studierenden berichten leider immer wieder von diskriminierendem oder inadäquatem Verhalten in der Praxis, vonseiten anderer Kolleg:innen, aber auch von Patient:innen. Eine geschlechtergerechte Kommunikation sollte daher im Curriculum des Medizinstudiums verankert sein. Ein Gutachten zu geschlechtersensiblem Wissen für Deutschland ergab, dass es hier noch Defizite aufzuarbeiten gilt. Es wurde darin eine ausreichende Aufklärung zu diesem Thema innerhalb der medizinischen Erstversorgung in nur 3,7 Prozent der Fälle ermittelt, in der Gesundheits- und Krankenpflege waren es 4,8 und der therapeutische Bereich hat mit 6,4 Prozent noch am besten abgeschnitten. Das betrifft geschlechtsspezifische Aspekte ebenso wie den soziokulturellen Background von Personen.
Momentan ist ein Positionspapier in Arbeit, das in Kürze veröffentlicht werden soll. Darin wird auf das erhöhte Risiko für Depressionen aufgrund von rassistischen Vorurteilen für People of Colour hingewiesen. Wir wissen etwa auch um die höhere Mortalität im Zuge von Covid19 für Schwarze Menschen in den USA, weil für sie der Zugang zur medizinischen Versorgung erschwert ist. Das führt ganz allgemein im Krankheitsfall zu einer Verzögerung in der Diagnostik und einem schlechteren Outcome. Hautkrebs wird seltener erkannt, es gibt in der schwarzen Bevölkerung eine höhere Müttersterblichkeit, unzureichende Schmerztherapie, etc. All diese Umstände entsprechen einer institutionell, strukturell verankerten Benachteiligung. Umso wichtiger ist es, nicht nur alles von einem biologisch-physiologischen Standpunkt aus zu betrachten, sondern auch auf gesellschaftspolitische Gegebenheiten einzugehen. Denn auch die haben letztendlich einen Einfluss auf die medizinische Versorgung.