Damals kam er (wie) gerufen: Kamer Arslan, Gastarbeiter-Urgestein
Was er sich mit 73, nach einem arbeitsreichen und nicht immer leichten Leben noch wünsche, frage ich Kamer Arslan. Gesundheit natürlich, antwortet der schwer Zuckerkranke, vor allem aber ein beheizbares Badezimmer. Dann könne er es sich im Winter ersparen, mehrmals wöchentlich die Arbeiterduschen des nahen Glanzstoffwerkes zu frequentieren, wozu er als ehemaliger langjähriger Mitarbeiter dieser Chemiefabrik noch immer das Recht habe.Wenn er jetzt auf einen Schlag um vierzig Jahre jünger wäre und noch einmal vor der Alternative stünde, als Gastarbeiter nach Österreich zu kommen, frage ich weiter, wie würde er sich entscheiden. Die Antwort kommt ohne zu zögern: Ja. Er würde wieder ja sagen.
Kamer Arslan wurde 1933 als Kleinbauernsohn in einem Bergdorf nahe der Stadt Tunceli in einer anatolischen Kurdenprovinz geboren. 1938 werden alle Bewohner des Kurdendorfs an das Schwarze Meer zwangsumgesiedelt. Beim Abtransport der Dorfbevölkerung wird Arslans Großvater erschossen. Erst 1947 darf die Familie wieder in ihre angestammte Heimat zurück. In der Folge heiratet Kamer Arslan ein Mädchen aus dem nächsten Dorf. Sie bekommen vier Kinder. Als die Landwirtschaft auf den steilen und kargen Böden seine junge Familie nicht mehr ernähren kann, wandert er wie so viele anatolische Kurden mit den Seinen nach Istanbul ab.
Dort findet er zunächst nur Beschäftigung als Träger. Schließlich wird er als Hilfskraft bei einer großen Werbeagentur eingestellt. Seine Kinder gehen in türkische Schulen und verlernen ihre kurdische Muttersprache völlig. Um für den Lebensunterhalt seiner Familie mehr zu verdienen, bewirbt er sich beim Istanbuler Arbeitsamt um Gastarbeit in Deutschland. Bei den strengen Gesundheitschecks wird ein kleiner Schatten in seiner Lunge entdeckt, die Deutschen nehmen ihn nicht.
Daraufhin macht man ihm am Arbeitsamt ein Angebot für Gastarbeit in Österreich, dort würde er 500 türkische Lira mehr als in der Werbeagentur verdienen. Er weiß über Österreich genau so wenig wie über Deutschland, er sagt ja. Am 26. Mai 1966 ist Kamer Arslan mit drei türkischen Kollegen am St. Pöltner Hauptbahnhof angekommen. Die Gruppe wird vom Dolmetscher und vom Personalchef des Glanzstoffwerkes, wo bereits rund 90 türkische Gastarbeiter malochen und weitere ausländische Arbeitskräfte dringend gebraucht werden, in Empfang genommen und zu ihrer Wohnbaracke auf dem Firmengelände gebracht. Das Zimmerchen für die vier Neuankömmlinge ist eher dürftig: vier Betten, ein Tisch, ein Fenster. Eine Gemeinschaftsküche für dutzende Arbeiter. Dafür werden die Holzbaracken mit Fernwärme geheizt.
Die Glanzstoff ist eine alte St. Pöltner Chemiefabrik. Seit 1906 wurden dort Kunstfasern erzeugt. Sowohl unter den Sowjets als auch zuvor in der NS-Zeit war in die Fabrik kaum etwas investiert worden. Unter solchen Bedingungen war die lokale Arbeiterschaft spätestens Mitte der Sechziger Jahre praktisch nicht mehr dazu zu bewegen, die schwere und gesundheitsschädliche Arbeit in diesem Chemiebetrieb anzunehmen.
Das Wiener Schnitzel erwies sich wie für ihn geschaffen
An seinem ersten Tag in St. Pölten spaziert Kamer Arslan in der Stadt herum. Er kommt bis zum Hammerpark südlich der Innenstadt. Der Park mit seinen alten, hohen Bäumen und der guten Luft gefällt ihm. Am nächsten Tag ist es mit der guten Luft vorbei, er fängt in der Glanzstoff an und beginnt seine erste Sechsstundenschicht im so genannten Spinnsaal. Zur Entgiftung bekommen alle Produktionsarbeiter pro Schicht einen halben Liter Milch auf Firmenkosten zu trinken. Die Vierer-Schichten zu je sechs Stunden bringen es mit sich, dass es praktisch keinen freien Tag gibt. Deutsch lernt Kamer Arslan nämlich in der Fabrik, im Spinnsaal. Die Firmenleitung weiß, was sie an den türkischen und kurdischen Arbeitern hat, und erlaubt zum Beispiel das Gebet während der Arbeit. Zudem richtet sie in der so genannten Präsidentenvilla am Betriebsareal schon bald einen islamischen Gebetsraum ein, den Kamer Arslan aber als Alevit nicht nützt.
Seinen Glauben kann er die nächsten Jahre mehr oder weniger nur dadurch praktizieren, dass er keinen Alkohol trinkt und auch Wurstsemmeln meidet, da darin Schweinefleisch enthalten sein könnte. Schon bald wird Wiener Schnitzel seine österreichische Leibspeise, auch deshalb, weil es in der klassischen Machart nur aus Kalbfleisch, Mehl, Semmelbrösel und Ei besteht.
Trotzdem verliert die Glanzstoff immer wieder türkische Mitarbeiter. Manche kehren aus Heimweh und aus Sehnsucht nach ihren Familien an den Bosporus zurück, viele wandern weiter nach Deutschland oder in die Schweiz. Daher gehen die Anwerbebemühungen in Istanbul und in Anatolien weiter. Der Glanzstoff-Personalchef und der Betriebsarzt reisen sogar in das kurdische Tunceli, um geeignete Gastarbeiter auszuwählen.
1969 errichtet die Glanzstoff vier zusätzliche, gemauerte Baracken in unmittelbarer Nähe des Firmengeländes. In diesem Jahr kommen Frau Arslan und die Kinder für drei Monate zu Besuch nach St. Pölten. Die Kinder tragen die türkische Nationaltracht und sind dieses folkloristischen Exotismus wegen geradezu eine Attraktion für die Hiesigen. „Als richtige Türken“ werden die vier kleinen Kurden ausgiebig fotografiert und bei Spaziergängen immer wieder von Einheimischen auf ein Getränk oder eine Nascherei in Wohnungen und Häuser eingeladen.
Um dem Barackendasein zu entkommen und vor allem um seine Familie dauerhaft nach Österreich holen zu können, versucht Kamer Arslan eine Wohnung zu bekommen. Erst 1973 gelingt es ihm, ein möbliertes Zimmer in der Klostergasse zu mieten, aber auch diese Bleibe ist zu klein für eine mehrköpfige Familie.
1975 erleidet Kamer Arslan einen fürchterlichen Arbeitsunfall. Nach Schichtende will er noch das so genannte Schergatter reinigen. Zu diesem Zwecke wird ein Knopf, der die Geschwindigkeit der Maschine regelt, mit Klebeband niedergedrückt, wodurch das Gatter sehr langsam läuft und man die Reinigungsarbeit wagen kann. Zu Arslans Pech geht das Klebeband irgendwie auf, die Maschine läuft plötzlich rasend schnell und er wird mit seinem rechten Arm, mit seinem Rücken und dem halben Kopf in die Anlage gezogen. Er ist allein in der Halle und wird zu seinem Glück schnell ohnmächtig durch die Verbrennungen, durch die Schmerzen. Er erwacht erst wieder im Krankenhaus, wo er ein halbes Jahr bleiben und 25 Operationen, die meisten davon Hauttransplantationen, über sich ergehen lassen muss.
Nach seiner Entlassung aus dem Spital bekommt er in der Glanzstoff Frauenarbeit, man nimmt einige Jahre lang Rücksicht auf seine geminderte körperliche Leistungsfähigkeit. Als er jedoch das 58. Lebensjahr erreicht hat, wird er in die Arbeitslosigkeit geschickt. Als er mit 60 pensioniert wird, kann er sich die 60-Quadratmeter-Firmenwohnung nicht mehr leisten und muss in eine kleine Wohnung ohne Zentralheizung umziehen.
Nie mehr in der Türkei in den letzten zehn Jahren
Ich sitze im Wohnzimmer des Ehepaares Arzun und Kamer Arslan. An der Wand hängen gerahmte Fotos der Eltern und Großeltern des Ehepaares und der zwei längst nicht mehr existierenden Dörfer in den Bergen Anatoliens, aus denen Kamer und Arzun stammen. Auf den Berggipfeln, an deren steilen Flanken die Dörfer wie Schwalbennester kleben, ist Schnee zu erkennen. Im Fernsehen läuft der türkische Fernsehsender „Star“, auf dem Couchtischchen liegt die aktuelle Ausgabe der „Hürriyet“. Aber Kamer Arslan war seit 1997 nicht mehr in der Türkei.
Wie er zu dem Wort „Gastarbeiter“ stehe, frage ich Kamer Arslan.
„Gastarbeiter ist nicht schlimm“, meint Kamer Arslan leise. „Die ersten Gastarbeiter sind 1964 in Wien mit einer Musikkapelle und mit Blumen begrüßt worden. Das hat mir jedenfalls mein Bruder erzählt, der damals dabei war. Heute lebt er in Deutschland. Mir ist ein solcher Empfang nicht passiert. Aber ich fühle mich hier in meiner Heimat. Meine Pension ist 750 Euro, mit der Familienausgleichszulage 1000 Euro. Mit diesem Geld könnte ich in der Türkei nicht überleben, weil dort alleine die Behandlung meiner Zuckerkrankheit und des Bluthochdrucks meiner Frau mehr kosten würde. Österreich ist zum Glück ein sozialer Staat.“
Kamer Arslan, denke ich, ist einer der ältesten Gastarbeiter St. Pöltens, vielleicht der älteste, der noch hier ist, seit 1966 lebt er in der niederösterreichischen Landeshauptstadt. Aus einem Gastarbeiter ist längst ein Österreicher geworden. Er hat weite Teile von Oberösterreich bereist, kennt sich in Wien ganz gut aus, auch in Salzburg und Graz. Trotzdem fühlt er sich in seinem Grätzel rund um die Glanzstoff-Fabrik, die heute europäischer Marktführer bei Reifencord ist und längst gute Filteranlagen hat, am wohlsten.
„Jeden Morgen gehe ich zu Fuß ins Café ,Fröstl‘ und frühstücke dort. Einen Käse-Kornspitz und einen Kaffee. Seit 1966 gehe ich hier spazieren. Mir ist nie etwas passiert.“