Gepflegtes Burnouttun & lassen

Arbeit und Leben in den Wiener Pensionistenhäusern

Pflege ist Arbeit. Die kann für beide Seiten angenehm sein, wenn die Bedingungen stimmen. Ist das in den Wiener Pensionistenhäusern der Fall? Ein Prozess vor dem Arbeits- und Sozialgericht gibt wenig erbauliche Einblicke. Text: Christian Bunke, Illustration: Nina Pieper

Wer kümmert sich um meine Eltern und Großeltern, wenn ich aufgrund langer Arbeitszeiten keine Lebenszeit dafür habe? Was passiert mit mir im Alter, wenn keiner da ist, um mich im Bedarfsfall zu pflegen? Wer schaut nach Menschen, bei denen Demenzerscheinungen auftreten – inzwischen eine echte «Volkskrankheit»?

Individuelle Pflege. Das Konsortium Wiener Pensionistenhäuser (KWP) betreibt im Auftrag des Fonds Soziales Wien die sogenannten Häuser fürs Leben, also die städtischen Seniorenwohnhäuser. Geworben wird mit einem klaren Versprechen: «Weil jede/-r etwas anderes braucht, sind alle Betreuungs- und Pflegeleistungen in den 30 Häusern zum Leben auf Ihren individuellen Bedarf abgestimmt», heißt es auf der Unternehmenshomepage.
Eine angebotene Leistung ist die sogenannte Tag.Familie für demenzkranke Menschen. Sie soll über Nacht das Wohnen in der eigenen Wohnung im Pensionistenwohnhaus und tagsüber «individuell abgestimmte Betreuung und Pflege» ermöglichen. «Durch sinnstiftende Aufgaben und Betätigungen wird die Selbstkompetenz gestärkt und die Lebensqualität durch einen lebensnahen Alltag verbessert», verspricht das KWP.

Kollektives Ausbrennen. 2016 trat Frau B ihre Arbeit als Heimhilfe im Haus Rossau im 9. Wiener Gemeindebezirk an. Ihre dortigen Erlebnisse fasste sie später in einem Brandbrief an die Heimleitung, den KWP-Zentralbetriebsrat und den Betriebsrat ihres eigenen Arbeitsplatzes zusammen. Was in ihren Worten als «aufregende und schöne Zeit» begann, trieb sie bald in den Krankenstand. Die Diagnose: schwere Überlastung und Burnout.
B arbeitete in der Tag.Familie. In ihrem Brief berichtet sie von «Chaos» und monatelanger Unterbesetzung. «Nur das Nötigste kann erledigt werden.» Für «angemessene, individuelle Betreuung der BewohnerInnen» gebe es schon lange keine Zeit mehr. Die Bewohner_innen würden in der Tag.Familie nur ihre Zeit absitzen. «Manche werden unruhig und angetrieben, andere versinken in Resignation und verschlafen den Tag.» Mit manchen Bewohner_innen seien die Heimhilfen «heillos überfordert». Es gebe im Haus nicht viele Fachkräfte, die für Demenz ausgebildet seien. Auf eine in der Tag.Familie zu betreuende Gruppe von 16 Personen kämen nur eine, manchmal zwei Betreuungskräfte. Dieser Betreuungsschlüssel sei viel zu gering, so B. Das Ergebnis sei eine Verwahrlosung mancher Bewohner_innen: «Sie irren im Haus herum, finden sich nicht zurecht, laufen weg, lassen sich nicht duschen oder Einlagen wechseln. Sie fühlen sich im Haus nicht wohl. Weil sie im Haus nicht ausreichend betreut und begleitet werden!» Auf die Gesundheit des Pflegepersonals habe dies drastische Auswirkungen: «Jeder versucht diese Situation irgendwie zu bewältigen», schreibt B. «Alkohol während des Dienstes ist keine Seltenheit mehr.» Es gebe keine Hilfe von Geschäftsleitung oder Betriebsrat, man höre nur, dass «in diesen schwierigen Zeiten» alle zusammenhalten müssten: «Gute und bemühte KollegInnen gehen, weil sie diese Situation nicht mehr ertragen.» In einem knappen Antwortschreiben, in welchem Frau B «baldige Besserung» gewünscht wurde, wurde auf Gespräche mit Heimleitung und Betriebsrat zum Thema «Herausforderungen gemeinsam bewältigen» und einen Fachvortrag zum Thema «Umgang mit herausfordernden BewohnerInnen» verwiesen. Die «Unterstellungen» von Frau B wurden von der Heimleitung zurückgewiesen.

Auf in den Kampf. Doch B wollte sich nicht zurückweisen lassen. Als Heimhilfe ist sie eigentlich keine Fachkraft, sie dürfte nach einer dreimonatigen Ausbildung nur einfache und unterstützende Tätigkeiten ausüben. Stattdessen, beschreibt sie, werden Heimhilfen im KWP auch zur Verabreichung von Medikamenten, der Planung und Durchführung von Gruppenangeboten und der Betreuung von Gruppen mit Demenz ohne Anleitung durch eine Fachkraft herangezogen. Und zur Reinigung von Pensionistenwohnungen. Weil demenzkranke Bewohner_innen manchmal nicht mehr in der Lage sind, im Notfall den Klingelknopf für die Nachtpflegerin zu betätigen, kommt es durchaus vor, dass die Wohnungen am Vormittag danach mit Fäkalien oder Urin verschmutzt sind. Wenn die dafür eigentlich angeheuerte Reinigungsfirma gerade überlastet ist, liegt es an den Heimhilfen, alles wieder in Ordnung zu bringen.
Das ist alles in Materialien für einen Prozess nachzulesen, den B gegen das KWP angestrengt hat. Sie wollte eine sogenannte «Schmutz-, Erschwernis-, Gefahrenzulage», kurz «SEG-Zulage» erkämpfen. Und das nicht nur für sich, sondern für alle ihre Kolleg_innen. Unterstützt wurde sie dabei von der Arbeiterkammer, mit welcher B eine «Garantieerklärung» abgeschlossen hatte. Darin hatte B sich verpflichtet, den Prozess bis zur Urteilsverkündung durchzufechten und sich nicht mit Vergleichszahlungen abspeisen zu lassen. Das ist ein klares Zeichen dafür, dass die AK dem Verfahren gute Erfolgsaussichten eingeräumt hat. Das Wort des «Präzedenzfalles» machte die Runde. SEG-Zulagen sind im Kollektivvertrag der Sozialwirtschaft Österreich, unter welchen auch das KWP fällt, für gefährliche und schmutzige Arbeiten vorgesehen. Heimhilfen haben diese nicht bekommen, weil ja eigentlich Fachkräfte die Tätigkeiten übernehmen sollten. Doch Frau B wurde regelmäßig mit gefährlichen und unhygienischen Situationen konfrontiert. Sie berichtet davon, dass die Situation in der Tag.Familie oft eskalierte, Bewohner_innen anfingen zu schreien und zu weinen, sich damit hochschaukelten und teilweise anfingen zu schlagen. Auch hier liegt für B die Ursache im unzureichenden Betreuungsschlüssel. Die Situation sei mit jener in der häuslichen Pflege nicht zu vergleichen, weil dort eine Pflegekraft meist nur für eine Person und nicht für eine ganze Gruppe gleichzeitig verantwortlich ist.
Neben den Aggressionen berichtet B auch von sexuellen Übergriffen, Begrabschungen und davon, dass Bewohner_innen unabsichtlich Fäkalien auf Gängen verteilten, weil ihnen nicht rechtzeitig geholfen werden konnte. In den Prozessakten ist zu lesen, dass die Heimhilfen dem oft nur mit Hilflosigkeit begegnen konnten.

Ein Erfolg von unten. Frau B wollte mit der Klage ihren Kolleg_innen zu ihrem Recht verhelfen und Aufmerksamkeit für die Probleme in den Pensionistenwohnhäusern der Stadt Wien er­wecken. Das alles hat sie unabhängig und von unten, gemeinsam mit einem Kreis von Unterstützer_innen gemacht. Die Arbeitgeberseite scheint sie mit ihrer Initiative durchaus aufgeschreckt zu haben. Am 9. April trudelten plötzlich E-Mails beim Personal der Pensionistenwohnhäuser ein. Darin hieß es, das KWP werde ab dem 1. Mai die SEG- und Geriatriezulage für alle bezahlen. Am 10. April überwies das KWP den von B eingeklagten Geldbetrag sowie alle angefallenen Prozesskosten auf ihr Konto. Somit gab es keinen Streitgegenstand mehr und der Prozess fiel flach.
Einer, der Frau B von Anfang an in der Sache begleitet hat, ist der Gewerkschafter Walter Waiss. Er schätzt, dass das KWP mit dem Rückzug aus dem Prozess verhindern wollte, Beweismittel wie Dienstpläne und Betreuungsdokumentationen vorlegen zu müssen. «Damit konnte nicht geklärt werden, ob Gesetze und Kollektivvertrag eingehalten wurden», so Waiss. Ein Erfolg ist es dennoch.
Die Botschaft dieser Geschichte: Wenn man sich mit Kolleg_innen zusammentut, nicht mehr alles schluckt und sich wehrt, kann man gewinnen. Das sollte alle hoffnungsvoll stimmen, die gerade im Sozial- und Gesundheitsbereich in Auseinandersetzungen mit ihren Arbeitgeber_innen einsteigen. 

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