Geschichten aus dem feuchten Talvorstadt

Lost Place: das ehemalige Sanatorium Wienerwald

Hotel in den Wiener Alpen mit Sonnenterrassen und Balkonen,  auf einer Waldlichtung sonnseitig gelegen, Schwimmbad, Fußballplatz, Kegelbahn, Berghütte, Wanderweg: Alles in unmittelbarer Nähe. So hätte ein Reiseprospekt lauten können, aber …

Von Hans Bogenreiter (Text und Fotos).

Mein zwanzigjähriger Sohn hatte den Tipp bekommen, dass es im Wienerwald ein verlassenes Sanatorium gebe, dass als «Lost Place» sehr interessant sei. Ich nahm gleich neugierig eine entsprechende Wanderkarte zur Hand. Dabei erkannte ich, dass ich an besagtem Platz schon einige Male vorbeigefahren war: zum Wandern bei den Myrafällen und zum Schifahren am Untersberg, wo bekanntlich Michaela Dorfmeister diesen Sport so gut erlernte, sodass sie noch zweifache Olympiasiegerin werden sollte.

Die Bahnstation in Ortmann mit der Papierfabrik samt Schlot ist zunächst keine besondere Anregung, aber im engen Tal nach Feichtenbach eröffnete sich ein überraschender Anblick: eine Gruppe Alpakas kam auf uns zu, ebenfalls neugierig. Die durchaus respektvolle Begegnung wurde jedoch empfindlich gestört, als eine schneidende, verärgerte Stimme vom Hof her erklang: «Deutlicher kann man es nicht schreiben!» Erst jetzt bemerkten wir den Balken mit den unmissverständlichen Hinweisen: «Privatgrundstück, betreten verboten, Videoüberwachung, Achtung bissiger Hund.» Letzterer begann auch alsbald laut zu bellen. Das war’s dann aber auch mit den Unfreundlichkeiten.

Als nächste Attraktion sprang uns eine Familie ins Auge: Der Bub lungerte unternehmenslustig auf einem Baumstumpf, der Vater prostete uns mit Bierkrug zu, und die Mutter trat eben neugierig aus dem Haus: lebensgroße Puppen, die einen Garten schmückten.

Das Sanatorium erlangte Weltruhm.

Im Ort, eigentlich nur eine Streusiedlung, fiel uns gleich das kleine Fußballfeld auf, von Bäumen umrahmt, der Rasen satt und hoch, also wenig bespielt, die Tribünen aus Euro-Paletten etwas ramponiert, aber immerhin stabile Tore.

Über eine Böschung gelangten wir zu einem halbwegs ebenen Platz mit einigen verlassenen Hütten und einem mehrstöckigen Haus, das ziemlich im Schatten lag, und dementsprechend feucht präsentierten sich die verlassenen Räumlichkeiten, offensichtlich nur eine Dependance des Sanatoriums.

Wir verließen das unwirtliche Gelände und gingen dann die Talsenke entlang bergwärts auf den Wald zu, wo ein Forstweg nach oben führte, vom Sanatorium fand sich aber keine Spur: Da half moderne Technologie. Die GPS-Daten auf dem Smartphone zeigten das gesuchte Objekt. Alsbald tauchte auf einer Lichtung die Vorderfront eines riesigen, kastenförmigen Gebäudes mit großen Fenstern und Balkonen auf: Das ehemalige Sanatorium Wienerwald machte sonnenbeschienen einen sehr freundlichen Eindruck. Es wurde ursprünglich 1903/4 von den beiden Lungenspezialisten Hugo Kraus und Arthur Baer gegründet und erlangte Weltruhm. Die jüdischen Ärzte wurden nach Machtübernahme durch die Nationalsozialisten enteignet und in den Selbstmord getrieben, bzw. gibt es auch Hinweise auf eine Ermordung von Kraus. Die bewegte Geschichte des Sanatoriums reicht von der Krieger- und Lungenheilstätte nach dem Ersten Weltkrieg, einem Mütter- und Kinderheim im Rahmen des abgründigen Nazi-Projekts Lebensborn, einem Kindererholungsheim nach dem Zweiten Weltkrieg, einem Erholungsheim der Krankenkasse, bis 2002 zum Hotel Feichtenbach und ist ausführlich im Internet, insbesondere bei Wikipedia, nachzulesen. Martialisch fielen die Berichte in den Lokalzeitungen auf: Blutfunde würden auf okkulte Tier-Rituale bei den illegalen Partys in der «Geistervilla» hindeuten. In einem «Lost Places»-Forum wiederum findet sich die Bemerkung, dass das so verunstaltete Anwesen ein guter Schauplatz für einen Horrorfilm sei.

Franz Kafka war Kurgast.

Der Zutritt wurde uns nur insofern schwer gemacht, als man stets darauf achten musste, nicht in Fliesen- oder Glasscherben zu treten oder sich an spitzen, zersplitterten Einrichtungsgegenständen zu verletzen. Wohl weit über 100 Räumlichkeiten – Zimmer, Fluren, Stiegenhäuser und Aufenthaltsräume –waren seit 2002 systematisch verwüstet worden, kleingehackt, mit Farbe bespritzt: ein Mahnmal für Auswüchse in unserer Gesellschaft oder gar ein Menetekel für deren bevorstehenden Verfall? Beim Durchgang durch den ruinierten Komplex war zu erkennen, dass sich hier rechts- und linksgerichtete Gruppen einen ideologischen Wettbewerb der zerstörerischen Art geliefert haben mussten, was eindeutig an den auf die Wände geschmierten Codes abgelesen werden konnte.

Als wir auf einen der in jedem Stockwerk vorhandenen Balkone traten, sahen wir unten ein Paar, das offensichtlich sofort erkannte, dass uns dasselbe Interesse einte. Wir müssten unbedingt auch das Schwimmbad besuchen, legten sie uns ans Herz; ein Kleinod im Wald, leicht zu erreichen, und sie beschrieben uns auch gleich den Weg. Vorher wollten wir aber noch auf den Berg hinauf zum Schutzhaus Waxeneck. Als wir den von dichtem Wald gesäumten Hohlweg hochgingen, stellten wir uns vor, hier wäre auch Franz Kafka, der 1924 im Sanatorium auf Kur gewesen ist, hinaufgestapft.

Lokalderby bei Würstel und Bier.

Oben am Bergkamm angekommen stand uns auch eine Verwandlung bevor: Es öffnete sich der Blick auf eine Wiese, über die zu unserem Erstaunen gerade ein Auto fuhr; die Straße, auf der der PKW unterwegs war, konnten wir von unten her nicht erkennen. Vorbei also mit der Naturromantik. Immerhin gab es auf der urigen Hütte Obstmost zu trinken. Am Rückweg gingen wie nochmals am Sanatorium vorbei, die Rückseite machte einen sehr feuchten Eindruck, hier war die Bausubstanz, im Gegensatz zur Vorderfront, schon sehr in Mitleidenschaft gezogen. Nun wollten wir aber noch das Schwimmbad besuchen, aber da hätten wir der Wegbeschreibung besser zuhören sollen. Nachdem wir einige Zeit im Wald herumirrten, bemerkten wir eine Frau auf einem Balkon von einem ehemaligen Kaufhaus. Frau Z. zeigte sich gleich behilflich, aber ein Schwimmbad gebe es hier nicht. Erst als wir darauf beharrten, meinte sie: «Ah so, das vom Sanatorium liegt am Weg hinter dem Fußballplatz.» «Und der Fußballplatz, wird der auch bespielt?» «Ja, freilich, einmal im Jahr findet bei Würstel und Bier ein Lokalderby statt.» Frau Z. berichtete auch bereitwillig, was sich in den letzten Jahren hier zugetragen hatte. Sie habe das Kaufhaus auch schon längst geschlossen, seit der Schließung des Hotels sei hier alles (zu) ruhig geworden. Der neue Eigentümer kümmere sich nur um den Wald, für die Zerstörung des Hotels sei er mitverantwortlich, weil er die Anlage nicht geschützt habe. Von weit her seien ganze Horden gekommen, um sich hier auszutoben. Ihre Stimme ließ aber keinen Ärger erkennen, eher Resignation. Also zurück zum Fußballplatz und den Weg hoch in den Bergwald. Wie bitte? Hier sollte sich mitten im Wald ein Schwimmbad befinden? Aber auf einer Lichtung tauchte es plötzlich auf: Ein Schwimmbecken, daneben eine Liegewiese und ein Holzbau mit Umkleidekabinen, auch ein Schwimmreifen lag verwaist herum; etwas surreal, aber durchaus romantisch.

Am Weg zurück bemerkten wir noch einen Mostheurigen, da war kein Vorbeikommen. Sehr gut frequentiert, wie sich herausstellte – unter uns gesprochen: bei den günstigen Preisen kein Wunder – und eine freundliche Wirtin, die sich aufgeschlossen zeigte, als wir danach fragten, ob wir einen eventuellen Ausflug mit einem Spiel im Feichtenbach-Stadion unserer «Soccer Sissis» hier ausklingen lassen könnten. So lief uns die Zeit davon, sodass wir den Zug um wenige Minuten versäumten. Also versuchten wir einfach Autos zu stoppen, was zur Überraschung auch gelang. Eine Einheimische nahm uns ein gutes Stück mit, und ein türkisches Ehepaar, das mit der Tochter wandern gewesen ist, brachte uns gleich heim in die Bundeshauptstadt.