Oder rechnerische Verwirrungen im Wiener Gesundheitssystem
Die Stadt Wien rühmt sich, ihrer Bevölkerung ein modernes und umfangreiches Gesundheitssystem zur Verfügung zu stellen. Ob dies allerdings auch weiterhin der Fall sein wird, ist unklar. Der Anästhesist Michael Roter (Name geändert) erklärt, warum es «moderne Arbeitszeiten» nur mit mehr Personal geben kann, und zeigt die Hintergründe der aktuellen Proteste der Ärztinnen und Ärzte auf.
Illu: Much
Ausgang allen Übels war, wie uns zu erklären versucht wird, die EU-Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG aus dem Jahr 2003. In der wird unter anderem eine wöchentliche durchschnittliche Maximalarbeitszeit von 48 Stunden vorgegeben. Diese Weisung wurde nach entsprechender Klagsdrohung durch den Europäischen Gerichtshof auch für die österreichische Ärzt_innenschaft im Jahr 2015 endlich im Rahmen des aktuell gültigen Krankenanstalten-Arbeitszeitgesetzes umgesetzt; jedoch nicht ohne eine weitere Übergangsfrist (bis 2021) auszuverhandeln, während der eine freiwillige Mehrarbeit bis 60 Stunden pro Woche weiterhin möglich ist.
Zeitgleich plant man in Wien das Spitalskonzept 2030: In den Spitälern soll vom «nicht beliebig erweiterbaren»* Personal mit Hilfe «moderner Arbeitszeiten» «ein größeres Augenmerk auf die Erstversorgung» gelegt werden. Normalstationsbetten werden verringert, Intensivstationen ausgebaut, um «mehr Angebot, weniger Überkapazität» zu erreichen.
«Nicht beliebig erweiterbares» Personal
Übergangen wurde bei der Konzepterstellung, dass am Ausbau des Personalstands kein Weg vorbeiführen wird, sofern man seinen Mitarbeiter_innen zeitgemäße Arbeitsbedingungen bieten möchte. Die Lösung der Stadtverwaltung sowie der Direktion des Wiener Krankenanstaltenverbundes sieht jedoch anders aus.
Nicht nur wird die mittelfristige Streichung von insgesamt 392 Planstellen angestrebt, bereits ab Oktober 2016 sollten innerhalb des Krankenanstaltenverbunds (dessen «stark überhöhte Managementgehälter und Beratungsleistungen» der Rechnungshof übrigens in seinem aktuellen Rohbericht kritisiert) ohne Absprache mit den Betroffenen zig Journaldiensträder à 25 Stunden zugunsten von Schichtdiensten à 12,5 Stunden gestrichen werden. Auf den ersten Blick mag das wie eine positive Entwicklung erscheinen: Entsprechend geplante Schichtdienste könnten tatsächlich eine Verbesserung bringen – dafür müsste man allerdings Personal aufstocken. In der Praxis bedeutet es für die Kolleg_innen eine Verdichtung des Arbeitsaufkommens auch nachts, deutlich schlechtere Planbarkeit der persönlichen Zeit sowie eine weiter zunehmende Störung des Tagesrhythmus bei nach wie vor für Mitteleuropa deutlich unterdurchschnittlicher Bezahlung.
Kurz gefasst sollen also einige hundert Ärzt_innen weniger als bisher dieselbe Menge an Arbeit in kürzerer Zeit erledigen, um die Versorgungsqualität auch weiterhin sicherzustellen. Was kann da schon schiefgehen?
Schon in einer 2015 durchgeführten Urabstimmung der Wiener Ärztekammer unter den gemeindebediensteten Ärzt_innen zeigten sich 93 Prozent streikbereit. Da Gesundheitsstadträtin Wehsely sowie KAV-Generaldirektor Janßen keine Gesprächsbereitschaft zeigten, wurde für 12. September dieses Jahres ein Warnstreik ausgerufen, an dem rund 2000 Kolleg_innen teilnahmen. Einschüchterungsversuche der Stadtverwaltung wie angedrohte dienstrechtliche Konsequenzen zeigten erfreulicherweise keine Wirkung. Von Seiten der Gewerkschaft der Gemeindebediensteten fehlte von Beginn an im Übrigen jegliche Unterstützung: Der Vorsitzende Christian Meidlinger sah, so zitierte ihn «Die Presse» im Juni letzten Jahres, «keine Notwendigkeit darin, in Wiens Gemeindespitälern für Chaos zu sorgen, wenn bereits ein ausverhandeltes Paket auf dem Tisch» liege.
In nachfolgenden Verhandlungen wurden Teilerfolge erreicht, die Umstellung auf neue Dienstformen solle zumindest in Absprache mit den Betroffenen, die Reduktion von Nachtdiensträdern erst nach detaillierter Überprüfung (sic!) geschehen. Ein Schelm, wer den bisherigen Kurs für einen unüberlegten Schnellschuss halten mag.
Gesundheit als Menschenrecht?
Wird dieser Streit auf dem Rücken der Patient_innen ausgetragen, wie uns oft vorgeworfen wird? Ja, unweigerlich, wie auch ein Streik in einer Bäckerei auf dem Rücken derjenigen ausgetragen wird, die um ihr Frühstück umfallen. Geht es nur um die Interessen einer einzelnen Berufsgruppe? Nein, sondern um eine grundlegende Wegentscheidung für die Zukunft: Wollen wir eine flächendeckend funktionierende medizinische Versorgung oder das günstigste Minimalprogramm? Erstere muss finanziert werden, letzteres lebt davon, dass diejenigen, die es sich leisten können, außerhalb des Systems privat zahlen.
Ob wir wollen oder nicht, ob Stadträtin, Unterstandsloser, Gewerkschaftsvorsitzender, Arbeiterin oder Arzt: Die Entscheidung dieser Frage wird uns alle persönlich betreffen.