Güter kostenlos bekommen und weitergeben, Lebensmittel retten, Dienstleistungen verschenken. Für eine Umsonstökonomie, die auf dem Prinzip der Solidarität und einem sozialen Wirtschaftssystem beruht, fehlen zwar die politischen Rahmenbedingungen, doch sie ist vielerorts Alltagsrealität – auch in Wien.
Der «Einbruchsschutz» verfehlt seine Wirkung. Sechs Quadratmeter groß ist der Müllraum einer Billa-Filiale in Wien Ottakring. Die zwei großen Restmülltonnen sind von einem hohen Gitter umgeben, oben drauf montiert: lange, spitze Metallstacheln, um das Überklettern durch «Mülldieb:innen» zu verhindern. Die Tür aber steht sperrangelweit offen. Klar ist, Vinko bewegt sich rechtlich zumindest in einer Grauzone.
Mülltauchen
Der 42-jährige aber geht hier fast täglich ein und aus, völlig unbeschwert, wie es scheint. Vinko muss mehrere Supermarkt-Rollwägen, voll leerer Verpackungskartons zur Seite schieben, um sich den Weg zum Müll zu bahnen. In der Luft liegt eine säuerliche Note, der Boden ist klebrig. Vinko zieht seine Handschuhe über und beginnt mit der Arbeit.Er ist ein Dumpster-Diver der Initiative Robin Foods. Dafür holt Vinko noch essbare Lebensmittel aus dem Müll von Supermärkten. Den Großteil der aus der Tonne gefischten Lebensmittel spendet Vinko an eine Privatinitiative zur Unterstützung wohnungsloser Menschen. Einen kleinen Teil der Lebensmittel behält er für sich selbst. Einkaufen gehe er nur sehr selten. «Sicher 95 Prozent» seines Essens hole er sich vom Ausschuss der Supermärkte.
Wenige Wiener:innen leben wie Vinko fast ausschließlich von «gerettetem» Essen. Sich aber bei unterschiedlichsten Gelegenheiten kostenfrei zu bedienen, das machen fast alle irgendwo. Steigende Lebensmittelpreise, in die Höhe schießende Mieten. In einer Gesellschaft, getrieben vom Leistungsgedanken, ist es für manche ein Akt des Widerstands sich geldfreie Räume zu schaffen, sich dem Konsum auf der Mikroebene zu verweigern. Für andere aber liegt darin ein Stück weit Notwendigkeit. Was ist die Umsonstökonomie? Und, wo gibt’s eigentlich was ohne Geld zu holen?
Bücherschrank
Zu holen gibt’s zum Beispiel etwas am Rand des Josef-Matthias-Hauer-Platzes in der Wiener Josefstadt. Gleich neben dem Spar steht ein grüner Schrank aus Metall. Ein älterer Herr hat eine Tür geöffnet, leert jetzt den Inhalt seines Plastiksackerls. Dann öffnet er die Glastür zur anderen Seite, nimmt ein, zwei Bücher raus, um sie nach kurzer Begutachtung wieder zurückzustellen. Auf die Frage, was er hier mache, entgegnet er: «I hab nur g’schaut!» Er wohne in der Umgebung, und komme regelmäßig vorbei. Beim Josefstädter Bücherschrank können gebrauchte Bücher abgegeben und mitgenommen werden. Ähnliche Schränke stehen in vielen anderen Bezirken auch. Der freundliche Herr sagt, er bringe immer Bücher, wenn er daheim ausmiste. «Ich hab’ daheim zu viele», kichert er fast schuldbewusst. Interessante Bücher würden hier «eher in Wellen kommen», wie er sagt. Mal weniger Spannendes und dann gleich mehrere lesenswerte auf einmal. Er nehme und gebe dem Bücherschrank, seitdem der hier stehe: «Das ist bei mir ein fast täglicher Weg.» Ein Power-User sozusagen. Oft hole er ein Buch aus dem grünen Metallschrank und stelle es nach dem Lesen wieder zurück. Besitzen war gestern, heute wird weitergeschenkt, könnte man meinen.
Ökonomie des Gemeinsamen
In Wirklichkeit ist unsere Gesellschaft viel zu sehr um das Geld organisiert, findet Brigitte Kratzwald. Sie ist Sozialwissenschafterin und Aktivistin für eine solidarische Ökonomie. «Wirtschaft und Arbeit zählt erst, wenn sie mit Geld in Verbindung gebracht wird.» Seit langer Zeit beschäftigt Kratzwald die Frage, welche politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen Menschen brauchen, um gut leben zu können. «Es wird immer so getan, wenn es der Wirtschaft gut gehe, geht’s uns allen gut. Aber das ist Blödsinn!» Das gegenwärtige System «zerstört die Natur, unsere sozialen Beziehungen und ist auch für den Menschen nicht gesund.» Es bringe uns alle in ein Konkurrenzverhältnis. «Ich muss immer schauen, dass ich die Beste bin. Es gibt immer die Gefahr, dass mir wer anderes was wegnimmt.» Mit natürlichen Ressourcen werde umgegangen, als ob sie unendlich wären. Rohstoffe werden nicht zurückgeführt, sondern landen im Meer, verbrannt in der Luft oder auf der Mülldeponie.
Nur, was wäre die Alternative? «Eine Wirtschaft, die nicht zwangsläufig wachsen muss», findet Kratzwald. «Auch wenn der Gesundheits-, der Bildungssektor oder erneuerbare Energien im Moment auf alle Fälle noch wachsen sollen.» Eine Produktion von Gütern, die nach dem Gebrauch wiederverwendet, recycelt, getauscht oder einfach verschenkt werden können. Und Kratzwalds Lieblingsthema: Die Commons. Das sind «Arrangements zur Herstellung und Erhaltung gemeinsam genutzter Ressourcen», so hat sie das Konzept in einem ihrer klugen Texte beschrieben. Für die menschliche Existenz notwendige Dinge, wie Wasser, Boden, aber auch Wissen oder das Bildungssystem könnten Commons sein, zu Deutsch: Gemeingüter. Kratzwald findet die Übersetzung etwas holprig, weil darin die soziale Praxis fehle. Commons würden allen gehören und sind für sie auch frei verfügbar. Brigitte Kratzwald findet: «Essen, Wohnen, all das, was man wirklich zum Leben braucht, dafür sollte man nicht vorher Geld haben müssen.» Tatsächlich ist aber sehr, sehr vieles in Privathand oder im Eigentum von Konzernen: Der Boden ebenso wie spezifisches Fachwissen, und selbst Wasser wird vielerorts schon privatisiert.
Zur freien Entnahme
Auf kleinster Ebene ist das unentgeltliche Weitergeben von Gütern aber irgendwo auch Alltagspraxis: beim Bücherschrank in der Josefstadt ebenso wie in vielen Wohnhäusern. Dort haben sich oft Ecken etabliert, in denen nicht mehr benötigte Güter abgestellt werden – sei es Geschirr, Teppiche oder Bekleidung – zur freien Entnahme. Überhaupt sei Schenken eine ganz tolle Sache, «Beziehungsarbeit», wie Kratzwald findet. Man müsse sich dabei nämlich die Frage stellen: Wieviel brauche ich wirklich und wieviel kann ich nehmen, damit anderen auch noch was bleibt? «Das bringt eine ganz andere Haltung mit sich, viel mehr Wertschätzung.»
Probiert werden kann dies bei Obstbäumen im öffentlichen Raum. In ganz Wien, aber auch anderswo, gibt es Nusssträucher, Apfel-, Kirsch- oder Pflaumenbäume, die frei beerntet werden dürfen. Entlang des Neusiedler Sees gibt es den Kirschblütenweg, der im April was fürs Auge und im Juni dann was für den Magen zu bieten hat. Aber selbst in der Großstadt, gibt’s Essbares kostenlos zum Selberernten. Die Stadt Wien vermarktet das unter dem Label «Obststadt». Einen besseren Überblick bietet die Onlinekarte von mundraub.org. Wer weiß schon, dass es im Arthaberpark im zehnten Wiener Bezirk Äpfel zu ernten gibt, im Prater Bärlauch und im Maxingpark bei Schönbrunn Kirschen, Haselnüsse und sogar Maulbeeren?
Online geht überhaupt so einiges. Wer in den sozialen Medien sucht, findet zumindest in jeder Stadt Hinweise auf Kleidertausch-Partys oder Gruppen, in denen Gebrauchtwaren kostenlos weitergegeben werden. Ein noch viel umfangreicheres Angebot ist in den beiden Wiener Freeshops zu finden, in der Schenke im achten Bezirk und dem Kostnix-Laden in Meidling. Und gebrauchte Möbel finden sich in oft überraschend gutem Zustand auf dem Sperrmüll. Und ganz wichtig: In Wien gibt es an vielen Plätzen und Parks WLAN von der Stadt, auch kostenfrei.
Bagatellkriminalität
Vollkommen undigital läuft das Dumpstern mit Vinko, der mittlerweile im Müllraum eines weiteren Supermarkts in Ottakring «archeologisch» vorgeht, wie er erklärt, während er einen prallen Müllsack in die Tonne nebenan wirft. Schicht für Schicht wird durchgearbeitet. «Ein bisschen wie eine Schatzsuche», sagt er und zieht eine Packung Bio-Nudeln aus der Tonne. Er wirft sie in seine mitgebrachte Transportkiste und kommentiert: «beim Auspacken aufgeschnitten.» Die Verpackung hat einen kleinen Schnitt, vom unachtsamen Öffnen der Großkartons mit Stanley-Messer. Und so landet die eigentlich einwandfreie Pasta im Müll. Vinko findet noch Fruchtzwerge, Apfel-Zimt-Chips, Joghurts und ein Kilo Haferflocken. Dazu zahllose Softdrinks und Brot. Langsam füllt sich Vinkos Kiste. Warum ist eigentlich Müll kein Gemeineigentum und daraus essen legal?
Der Lebensmittelverschwendung will die Politik eigentlich schon längst gegensteuern. Das Problem bleibt aber auch heute absurd riesig. Jährlich fallen in Österreich fast 800.000 Tonnen «an vermeidbaren Lebensmittelabfällen» an, wie der Rechnungshof im Jahr 2021 errechnete. Ein paar hundert Kilo davon rettet Vinko jede Woche, wie er schätzt. Bis er seine Passion entdeckt habe, hätte er ein «sinnfreies Prolo-Dasein» geführt, wie er es beschreibt. Er habe Maler-Anstreicher gelernt, sei überall hin mit dem Auto gefahren. Seit zweieinhalb Jahren engagiert er sich jetzt gegen Lebensmittelverschwendung. Fünfmal die Woche fährt er «seine» Runde in Ottakring mit dem E-Lastenrad. Die Supermarkt-Bediensteten würden ihn schon kennen, «mittlerweile» auch tolerieren, erzählt er augenzwinkernd: «Denen ist nicht viel anderes übrig geblieben.»
Eigentlich ist der Müll Eigentum öffentlicher oder privater Containerbetreiber. Seine Entwendung sei damit in der Regel Diebstahl, erklärt der Wiener Rechtsanwalt Alexander Kern. Verurteilungen gab es diesbezüglich bislang keine. «Hier befindet man sich in einem Bereich der Bagatellkriminalität.» Verfahren würden in der Regel wegen Geringfügigkeit eingestellt.
Zur Abfallvermeidung könnte auch die Nachernte beitragen. Rund drei Prozent des Ertrags verbleiben aus technischen Gründen auf den Feldern, ergab eine Studie der BOKU. Solange etwa Kartoffeln auf dem Feld liegen, bleiben sie im Eigentum der Landwirt:innen, sagt Kern. «Man wird jedoch im Einzelfall prüfen müssen, ob diese die liegengebliebene Ernte überhaupt noch verwerten können bzw. wollen, sie damit möglicherweise ihr Eigentum daran freiwillig aufgegeben haben und ob ein Bereicherungsvorsatz denen, die nachernten, zu bejahen ist.» Der Jurist sei «skeptisch», ob bei der Nachernte überhaupt strafbares Verhalten vorliege, wie er sagt. Ähnlich wie beim Dumpstern würde derartiges Verhalten, sofern nicht exzessiv betrieben und ausschließlich nach der vollständigen Ernte der Landwirt:innen, ebenfalls in den Bereich der Bagatellkriminalität fallen.
Umsonstökonomie
Alles andere als geringfügig aber ist die Menge an Essen, die Vinko beim letzten Supermarkt für heute aus der Tonne holt: Striezel, Getränke, Milchprodukte und sogar eine Küchenwaage. Prall gefüllt packt er die Kisten auf sein Lastenrad und macht sich auf den Heimweg. Anzeigen wird den routinierten Essensretter bei seiner Supermarktrunde erfahrungsgemäß niemand. Und wäre die Umsonstökonomie in unserer Welt nicht nur eine hartnäckige Nische und tolerierte Alltagspraxis, sondern politisch erwünscht, so könnte auch der verstaubte Einbruchsschutz beim Müllraum abgebaut werden.
Brigitte Kratzwald findet, eine Welt, in der Gemeineigentum kollektiv und nachhaltig genutzt wird, wäre eine bessere. Seien es Kleinbäuer:innen im Lateinamerika der Gegenwart, im deutschen Westfalen der 1950er-Jahre oder in der modernen Waldgenossenschaft: Kollektive Bewirtschaftung von Gemeinschaftseigentum funktioniert jetzt schon nicht nur gut, sondern sogar besser als Privateigentum, ist sie überzeugt. Aber Commons brauchen politische Rahmenbedingungen, welche die Selbstorganisiation möglich machen. «Ein bedingungsloses Grundeinkommen wäre super, um finanziellen Spielraum zu schaffen, damit die Leute so eine andere Ökonomie überhaupt erst mal ausprobieren können.» Es brauche dafür aber auch andere Formen des Mitbestimmens, der Gestaltungsmöglichkeiten, ja der Demokratie, findet Kratzwald. «Ich stelle mir eine Gesellschaft vor, in der es Dinge gibt, die öffentlich bereitgestellt werden, solche, die sich Menschen selbst organisieren und dass gewisse, nicht lebensnotwendige Bereiche, auch über den Markt organisiert werden. Und im allerbesten Fall wird demokratisch darüber entschieden, welche Bereiche nach welcher Logik gestaltet werden sollen.»