Giftiges Versuchslabortun & lassen

Illustration: Thomas Kriebaum

Eing'Schenkt (9. Oktober 2024)

In modernen Sozialstaaten begann man nach dem Krieg Schritt für Schritt mit der Einführung von Geldleistungen, basierend auf Grundrechten, flankiert von sozialen Dienstleistungen. Das ist in dieser Kombination auch am wirkungsvollsten und hilfreichsten. Was jetzt aber wieder diskutiert wird, die «Umstellung von Geld auf Sachleistungen», klingt so harmlos, ist aber ein Rückschritt in die auto­ritären und paternalistischen Modelle des vori­gen Jahrhunderts.
Meist wird alles, was nicht Geldleistung ist, ­unter «Sachleistung» subsumiert. Ich würde aber vorschlagen, Sach- von Dienstleistungen zu unter­scheiden. Das hilft uns, bei den Instrumenten zu differenzieren. Soziale Dienstleistungen sind Pflege­hilfen, Assistenz, Kinderbetreuung, therapeutische Hilfen, Lernangebote, Familienberatung, mobile Teams. Sachleistungen hingegen umfassen im eigentlichen Sinne eben «Sachen» wie Lebensmittel, Wäsche, Hygieneartikel, Naturalien.
Bei leistbarem Wohnen oder öffentlichem Verkehr kann man auch von sozialer Infrastruktur sprechen. Aus der Forschung wissen wir, dass Investitionen in Dienstleistungen für Gesundheit und Bildung gegen Armut besonders wirkungsvoll sind. Die Unterstützung durch soziale Dienstleistungen erhöht in der Regel die ­Handlungsspielräume und Teilhabemöglichkeiten der Betroffenen. Bei Sachleistungen sind die Effekte tendenziell umgekehrt. In bestimmten Fällen können Sachleistungen mit Gutscheinen oder die direkte Überweisung beispielsweise der Miete sinnvoll sein, z. B. bei einer Suchterkrankung oder einer psychischen Krise als zu begründende Ausnahme, wie es in der Mindestsicherung auch geregelt war.
Wenn die «Sachleistungen» aber pauschal für alle angeordnet werden, daraus große Sondersysteme für Arme entstehen und bürokratische Bedürftigkeitskontrolle steigt, dann folgen Stigmatisierung, weniger Selbstständigkeit und Almosenwirtschaft. «Der Vergleich mit einer Zielscheibe sieht den Leistungsbezieher in keiner Weise als aktive Person, die für sich selbst sorgt, handelt und tätig ist. Das Bild verweist eher auf einen Almosenempfänger», so Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen. Pauschale Sonder-Sachleistungen für Arme in Sondersystemen erzeugen Entmündigung und Beschämung. In der schlechten Sozialhilfe beispielsweise weiß die Vermieterin oder der Stromlieferant jetzt genau Bescheid, dass da eine:r Sozialhilfe hat. Aus der Praxis wissen wir, dass das eher zu Ungunsten der Betroffenen ausgeht.
Wie immer werden solche Maßnahmen bei denen ausprobiert, die keiner mag (aktuell Flücht­linge), um über kurz oder lang dann bei allen zu landen: bei Menschen mit Behinderungen, Mindestpensionist:innen, Frauen mit Kindern, chronisch Kranken, Arbeitssuchenden. War ja bei der Abschaffung der Mindestsicherung genauso. Die «Unsympathischen» und zu Unpersonen gemachten dienen als Versuchslabor für neue Kontrollsysteme, die dann bei allen angewandt werden können. Die Behörde wird über eine Bezahlkarte beispielsweise jede Ausgabe an Bürger:innen kontrollieren und moralisch bewerten: potenziell bei allen Sozialleistungen, von der Mindestpension, dem Arbeitslosengeld bis zu Familienbeihilfe und Pflegegeld. China macht das gerade, autoritäre Staaten wie Ungarn haben daran auch Interesse. Österreich ist da nicht auszunehmen. Wenn wir nicht aufpassen.

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