"Verblüffend" fand der Epidemiologe R. Wilkinson die Resultate seiner eigenen Studien
Die britische Tageszeitung «The Guardian» bezeichnete das kürzlich auf Deutsch erschienene Buch von Richard Wilkinson und Kate Pickett als das vielleicht wichtigste des Jahres 2009. Der Augustin sprach mit dem Epidemiologen der University of Nottingham, der seit Jahrzehnten zu Ungleichverteilung, Sozialkapital und Gesundheit forscht.Es ist lange bekannt, dass sich Armut negativ auf die Gesundheit und die Lebenserwartung der von Armut Betroffenen auswirkt. Was ist das Neue an Ihren Forschungsergebnissen?
Sehr lange Zeit dachte man, dass wirtschaftliches Wachstum und die Verbesserung des materiellen Lebensstandards die Lebensqualität und damit die Gesundheit, die Lebenserwartung etc. aller Menschen in einer Gesellschaft erhöht. Innerhalb eines Landes existiert der Zusammenhang zwischen dem Wohlbefinden der Menschen und ihrem Einkommen schon: Reiche sind gesünder und glücklicher als Arme. Aber vergleicht man reiche Länder, spielt es keine Rolle, ob in dem einen Land die Menschen doppelt so reich sind wie in dem anderen. Das Pro-Kopf-Einkommen in Portugal beispielsweise ist nur halb so groß wie in den USA. Die Lebenserwartung aber liegt in beiden Ländern bei ungefähr 75 Jahren. Das ist verblüffend. Warum ist das so? Weil offenbar nicht der absolute materielle Wohlstand entscheidend ist, sondern, wie wir herausgefunden haben, der Grad der Ungleichheit in einer Gesellschaft. Nur in ärmeren Ländern wächst die Lebenserwartung und die Lebensqualität mit dem Anstieg des Wohlstands, in reicheren Staaten gibt es ab einem gewissen Punkt keine Aufwärtsentwicklung mehr.
Das bedeutet, um die Lebensqualität aller in einer Gesellschaft zu verbessern, muss die Ungleichheit bekämpft werden, also die Kluft zwischen Arm und Reich verringert werden.
Genau. Und: Je gleichmäßiger die Verteilung, desto weniger Reichtum ist nötig, um das gleiche Maß an Lebenszeit und Lebensqualität zu erreichen. Dabei geht es wohlgemerkt nicht um Chancengleichheit, um faire Startbedingungen beim Wettlauf um Einkommen und Status, sondern um Gleichheit im Ergebnis. Fast alle Probleme, die in ärmeren Schichten der Gesellschaft häufiger vorkommen, wie z. B. schlechterer Gesundheitszustand, geringere Lebenserwartung, Gewalt, Alkohol- und Drogenkonsum, psychische Erkrankungen etc., kommen in ungleichen Gesellschaften in eklatant höherem Ausmaß vor. Es handelt sich nicht um 20 Prozent mehr Gewaltdelikte oder schlechtere Gesundheit, ich spreche von 3- bis 10-mal so großen Unterschieden. Das betrifft offensichtlich die gesamte Gesellschaft, nicht nur die Armen. Denn die Unterschiede sind viel zu groß, um nur von den 10 bis 15 Prozent Ärmsten einer Gesellschaft verursacht zu werden. Es scheint also, dass fast alle von uns von den Auswirkungen der Ungleichheit einer Gesellschaft betroffen sind. Die negativen Effekte sind stärker bei den Armen, aber sie betreffen auch die gut ausgebildete, gut bezahlte Mittel- und Oberschicht.
Was ist Ihre Erklärung für diese Diagnose? Warum ist das so?
In den ungleichsten Gesellschaften stimmen zum Beispiel nur etwa 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung zu, dass man den meisten Menschen trauen kann. In gleicheren Gesellschaften stimmen dem 60, 65 Prozent zu. Das macht einen Unterschied, z. B. beim Sicherheitsgefühl, besonders für Frauen. Auch das gegenseitige Abchecken, die Statuskonkurrenz, das Verlangen nach Kontrolle ist in ungleichen Gesellschaften größer. Wenn Sie in Schweden in ein Hotel gehen, werden Sie beim Frühstück nicht nach Ihrer Zimmernummer gefragt, in England oder USA etwa werden Sie immer kontrolliert. Mehr Vertrauen in einer Gesellschaft heißt weniger sozialen Stress, weniger Konkurrenz, heißt auch mehr Beteiligung am Gemeinschaftsleben. Wenn du Freunde hast, dich unterstützt oder bewundert fühlst, dann stärkt dich das. Wenn du das alles nicht hast, dann stehst du unter starkem Stress, der sich negativ auf deine Gesundheit, auf dein Sozialverhalten auswirkt. Es scheint so, als würde auch der Konsumismus, der natürlich auch aus Umwelt- und Klimasicht eine Bedrohung ist, durch Ungleichheit angeheizt. Eine Fülle von Ergebnissen ist noch eindeutiger mit Ungleichheit zu erklären, z. B. Gewaltdelikte. Die häufigste Ursache für Gewalt ist, wenn jemand beschämt wird, nicht respektiert, gedemütigt, jemand Gesichtsverlust erleidet. Ungleichheit hat zur Folge, dass wir uns selbst und andere strenger beurteilen. Menschen werden sensibler dafür, wie sie gesehen werden.
Das Problem sind also die sozialen Statusdifferenzen.
Ja. Die Vermögenden sichern ihren sozialen Status, indem sie den Schwächeren ihre Überlegenheit zeigen. Diejenigen, die auf diese Weise einen Statusverlust hinnehmen müssen, versuchen sich dann an denen schadlos zu halten, die unter ihnen stehen. Je ungleicher eine Gesellschaft, desto wichtiger die Statusdifferenzen. In den USA gibt es nicht mehr Gewalt, weil die Armen die Reichen attackieren, sondern weil die Menschen sensibler auf so genannte Gewaltreize auf Demütigung und Erniedrigung sind. Die Gewalt richtet sich in der Regel gegen Schwächere. Der soziale Druck verlagert sich nach unten. Die Reichen mauern sich ein. Das verschafft vielleicht ein vermeintliches Gefühl der Geborgenheit. Doch der Stress kommt durch die Hintertür wieder herein: die Angst, etwas zu verlieren und niemandem mehr trauen zu können.
Welche Länder haben Sie verglichen, mit welchen Daten und Ergebnissen?
Wir wählten die 50 reichsten Länder der Welt aus, entwickelte Demokratien mit Marktwirtschaft, und haben uns die Einkommensdifferenzen angesehen: Um wie viel reicher sind die 20 Prozent Reichsten im Vergleich zu den 20 Prozent Ärmsten einer Gesellschaft. Relativ gleiche Gesellschaften sind die skandinavischen Länder, die Niederlande, aber auch z. B. Japan. Im Ergebnis macht es keinen Unterschied, ob die Gleichheit durch Umverteilung zustande kommt wie in Schweden oder durch geringere Unterschiede bei den Gehältern wie in Japan. Länder wie USA, Großbritannien, Portugal, Australien, Neuseeland sind am anderen Ende der Skala, mit einer ungefähr doppelt so großen Einkommensungleichheit oder mehr im Vergleich zu den erstgenannten Ländern. Wir haben in unserer Studie gezeigt, wie sich das auf die Lebensqualität auswirkt. Ich habe lang in dem Bereich geforscht und mich beschäftigt, wie sich Armut auf Menschen auswirkt, um auch dahinter zu kommen, warum Armut sich in gleicheren Gesellschaften anders auswirkt als in ungleichen Gesellschaften. Aber ich bin lange nicht auf die Idee gekommen, auch andere Faktoren anzusehen wie Mordraten, Anzahl der Inhaftierten, Fettleibigkeit, Teenagerschwangerschaften, Alkohol- und Drogensucht, psychische Erkrankungen etc. Es schaut so aus, als ob Ungleichheit sozial dysfunktional für die gesamte Gesellschaft wäre. Sie verschlechtert nicht nur ein oder zwei Dinge, sondern fast alle Dinge laufen schlechter in ungleichen Gesellschaften.
Die Qualität der Daten ist immer ein möglicher Angriffspunkt von KritikerInnen. Welche Daten haben Sie verwendet?
Wir haben Daten von anerkannten Institutionen wie der Weltgesundheitsorganisation, der UN, der Weltbank, der OECD und anderer internationalen Organisationen verwendet, um uns hier keinem Vorwurf auszusetzen, die Ergebnisse zu beeinflussen.
Könnten die Unterschiede zwischen den Ländern nicht auch durch z. B. historisch bedingte oder kulturelle Spezifika der Länder zustande gekommen sein?
Nein. Wir haben alle unsere Analysen mit den 50 amerikanischen Bundesstaaten wiederholt, stellten exakt die gleichen Fragen und erhielten ein fast identisches Bild.
Die Resonanz auf Ihr Buch ist ja international sehr groß. Deuten Sie das als ein Zeichen dafür, dass die Zeit reif ist für gesellschaftspolitische Veränderungen?
Ich glaube, dass das politische Pendel begonnen hat, sich nun wieder in die andere Richtung zu bewegen. Lange Jahre hat es sich in die rechte Richtung bewegt. Die Finanzkrise zeigte, dass das System, von dem wir glaubten, dass es gut funktioniert, sich als schlecht erwiesen hat. Die Krise und der Zorn auf die Bonuskultur haben den Samen für neue Ideen und Veränderung gesät, für eine kritischere Beurteilung, wie unsere Gesellschaft funktioniert. Ich habe den Eindruck, dass Menschen jetzt mehr über alternatives Wirtschaften nachdenken, über neue Formen der Mitbestimmung, darüber, was Lebensqualität bedeutet etc. Es gibt auch ermutigende Beispiele in der Wirtschaft: Kooperativen, demokratische Führung von Unternehmen, ökonomische Think-Tanks, die Alternativen entwickeln. Ich glaube, dass viele Menschen bereits begriffen haben, dass sich etwas ändern muss, auch aus Gründen der Nachhaltigkeit.
INFO:
Richard Wilkinson, Kate Pickett: Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind, Tolkemitt Verlag bei Zweitausendeins.