Gnadenlos sozialliberaltun & lassen

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Wenn dein Baby nachts schreit, nimmst du es hoch? Manchmal kann man als Mama und Papa nicht mehr, klar, aber so prinzipiell, wenn das kleine Kind weint, tröstest du es? Die Antwort sagt aus, ob wir glauben, uns Zuwendung verdienen zu müssen, ob wir sie uns erwerben müssen, ob wir uns würdig erweisen, ob wir sie als Belohnung bekommen oder sie uns als Strafe verweigert wird. Der Sozialwissenschaftler George Lakoff hat diese Frage entdeckt als Hinweis auf Gesellschaften mit mehr oder weniger sozialer Sicherheit, mehr oder weniger Armut, mehr oder weniger sozialer Spaltung.
«Jeder schafft es, wenn er nur will.» Dieses zentrale Dogma sozialliberaler Ideologie verwandelt die Gesellschaft in Gewinner und Verlierer. Die Gewinner_innen verdanken den Erfolg ihrer Leistung, die Verlierer_innen das Zurückbleiben ihrer Unfähigkeit. In dieser «Meritokratie», der Herrschaft der Leistung, sind die Ärmeren stets selbst schuld an ihrer Situation.
Je mehr über die Chancen, die alle haben, geredet wird, desto weniger sind diese in der Realität auffindbar. Am stärksten ist die Rede davon in den USA, wo gleichzeitig die Chancen aufzusteigen in den letzten Jahrzehnten am stärksten gesunken sind und die Schere zwischen Arm und Reich am ärgsten gewachsen ist. Dort wo die soziale Ungleichheit explodiert, beschwören die Mächtigen am liebsten das Märchen, dass alles von dir selbst abhängt. Viele arbeiten hart, können aber trotzdem nicht davon leben. Viele merken, dass es sich bei diesem Versprechen um eine Lüge handelt. Die Überheblichkeit der Gewinner ebenso wie die Demütigung der Verlierer befeuern den autoritären Nationalpopulismus, wie wir ihn derzeit erleben. Im Kern merken die Leute, dass sie angelogen werden, und äußern ihren Unmut gegen die Eliten, die dieses sozialliberale, trügerische Märchen tagaus, tagein auf der Zunge tragen.
Der gut gemeinte Ruf nach mehr Chancengleichheit verschweigt die Defizite bei Verteilungs-, Bedarfs-, Teilhabe- oder Anerkennungsgerechtigkeit. Und er spricht ein Urteil: Du bist selber schuld. Statt dieser trennenden Ethik des Erfolgs braucht es eine umfassende Gerechtigkeitskonzeption. Die Blume der Gerechtigkeit hat viele Blütenblätter, nicht nur eines. Die Überzeugung, dass Menschen alle Reichtümer verdienen, die der Markt für ihre Fähigkeiten verteilt, macht Solidarität schwierig. Warum sollen die Gewinner den weniger begünstigten Mitgliedern der Gesellschaft etwas schuldig sein? Jeder hat ja verdient, was er kriegt. Diese Ideologie ist gnadenlos, es gibt keine Zufälle der Geburt, kein Glück, keine Menschen oder Institutionen, denen man etwas verdanken könnte, kein Schicksal, nichts, das außerhalb unserer Fähigkeiten liegt. Wenn mein Baby nachts schreit, dann tröste ich es.
Niemand von uns kann gut aufwachsen ohne andere. Wir brauchen Zuwendung von anderen, um uns gut zu entwickeln – und diese Zuwendung bekommen wir geschenkt. Wir müssen sie uns nicht verdienen – in Wahrheit sind Zuwendung und Respekt Geschenke. Respekt ist kein Verdienst, Respekt ist die Voraussetzung. «Ich muss nicht mein eigenes Lebensbrot backen, ich muss nicht meine eigene Kraftspenderin oder mein Tröster sein, ich muss nicht nur ich selber sein», formuliert Dorothee Sölle. In den Ländern, wo wir nicht alles «von uns selber» verlangen, gibt es weniger Armut, mehr soziale Sicherheit und eine geringere Spaltung zwischen Arm und Reich.