Wie werden unsere Städte gerechter?
Planende Nachbarschaften. Das urbanize! Festival 2018 legt den Fokus auf den kleinteiligen Maßstab: Stadt gemeinsam aus dem Grätzl heraus entwickeln. Von Lisa Puchner.
Illu: Much
Die freie Grünfläche ums Eck’ ist ständig von Großveranstaltungen und für kommerzielle Zwecke besetzt; sie kann kaum mehr zum Im-Gras-Herumliegen-und-sich-von-Halmen-kitzeln-Lassen oder für ein Kickerl genutzt werden. Die Mieten im Haus steigen bis auf ein von den Bewohner_innen nicht mehr leistbares Niveau. Jugendliche sind an ihrem etablierten Aufenthaltsort im öffentlichen Raum nicht mehr willkommen und werden als nicht konsumstarke Gruppe vertrieben. Ein Gemeinschaftszentrum soll als zugänglicher Treffpunkt und soziokultureller Freiraum für die nähere Umgebung realisiert oder erhalten werden. Ein Gemeinschaftsgarten auf der Brache hinter dem Kaufhaus gepflanzt oder fortgeführt, der dichte Verkehr am Weg zur Schule, zum Würstelstand, zur Arbeit, abgebremst und minimiert werden. Ganz konkrete Problemlagen oder Anliegen von Bewohner_innen, die sich in unzähligen Städten in der einen oder anderen Form wiederfinden. Problemlagen und Anliegen, die die Bewohner_innen des Stadtteils in ihrem täglichen Leben gemeinsam betreffen. Problemlagen und alltägliche Bedürfnisse, die schließlich auch Grund (genug) und Anlass zum lokalen Zusammenschluss der Nachbarschaft, der Stadtbewohner_innen im Grätzl sind.
Lokal bewegt, global vernetzt.
Während sich Nationalstaaten und deren politische Akteur_innen vielerorts rückwärtsgewandter Angstmacherei und reaktionären Tendenzen hingeben, verfolgen Initiativen in verschiedenen Städten eine gerechtere und vielfältigere Vision von Leben und Zusammenleben. Bei der Frage, wie unsere Städte zu offenen und gleichberechtigten Orten der verdichteten Unterschiedlichkeit nach dem Soziologen Henri Lefebvre werden können, spielen solche lokalen Bewegungen im Stadtteil eine entscheidende Rolle. In diesem Sinne steht in den neuen munizipalistischen Bewegungen das ‹barrio›, der ‹Kiez›, das ‹Grätzl› als der Ort, wo Ideen entstehen, von wo aus Stadt entwickelt werden kann. Breiter bekannt durch Barcelona und die 2015 mit der Plattform Barcelona en Comú zur Bürgermeisterin gewählten Ada Colau streben Bürger_innen-Plattformen und soziale Stadt-Bewegungen den Einzug in die städtischen Institutionen an: um diese mit radikaldemokratischen Ansprüchen neu bzw. wieder gemeinwohlorientiert auszurichten. Es geht um die Entwicklung von Städten, gemeinsam mit den Bewohner_innen, im Zeichen von räumlicher Gerechtigkeit, sozialem Ausgleich und allem, was zukunftsfähige Städte ausmacht wie klimafreundliche Politiken. Entscheidend bei den munizipalistischen Bewegungen ist aber auch die Vernetzung: sich nicht im Stadtteil oder der jeweiligen Stadt einzuzäunen, sondern global zu vernetzen, zu kooperieren und auszutauschen. «Die lokale Ebene – also das Grätzl, die Nachbarschaft – ist eben die, wo sich Leute treffen, wo sich Bewohnerinnen aus spezifischen Anlässen zusammenfinden, wo soziale Prozesse entstehen und wo auch sozialer Wandel passiert», so Elke Rauth von dérive – Verein für Stadtforschung. In diesem Sinne steht das diesjährige urbanize! Festival, das seit 2010 jährlich vom Verein organisiert wird, unter dem Titel «Grätzlhood» und erkundet Möglichkeiten lokaler Gestaltungsmacht und Selbstorganisierung für eine mündige Stadtgesellschaft.
Festival erkundet.
Beim urbanize! 2018 von 24. bis 28. Oktober in und rund um die Nordbahnhalle im 2. Wiener Bezirk rücken «planende Nachbarschaften» ins Zentrum: Unmittelbare Betroffenheit führt zum lokalen Zusammenschluss der Stadtbewohner_innen. So entstehen Kompliz_innenschaften heterogenster Gruppen, die für ein gemeinsames Anliegen kämpfen und kollaborativ Stadt entwickeln. Dabei geht es nicht so sehr um Partizipation im Sinne konventioneller, von der Stadtregierung initiierter Beteiligungsprozesse, sondern um Koproduktion von Stadt im Sinne von Teilhabe. Workshops, Vernetzungsforen und Spaziergänge geben Gelegenheit, Instrumente und Wissen zur lokalen Stadt-Produktion zu erwerben und auszutauschen. So wird z. B. das Bureau für Selbstorganisierung Sprechstunden anbieten, Grove Park Neighbourhood Development aus London selbstorganisierte Nachbarschaftsentwicklung thematisieren oder die Warsaw Tenants Association über Mietkämpfe in Warschau diskutieren. Die Nordbahnhalle als Festivalzentrale ist letztlich ein spannender Ort hinsichtlich des Festivalthemas: In einem Stadtentwicklungsgebiet gelegen und Zentrum des Forschungs- und Entwicklungsprojekts «Mischung: Nordbahnhof», entstand hier zuweilen ein «konsumfreier Begegnungsraum für die Nachbarschaft und zahlreiche gemeinwohl-orientierte und sozio-kulturelle Initiativen» und stellt damit «eine wichtige räumliche Ressource für die alte und neu entstehende Nachbarschaft und weit darüber hinaus dar», wie es im Festivalprogramm heißt.
urbanize!
24.–28. Oktober
www.urbanize.at