Seit 27 Jahren leidet meine Großmutter Rosa an einer schweren Autoimmunerkrankung.
Permanente Schmerzen, täglich mindestens sechs Tabletten und eine lange Krankheits-
geschichte zeichnen ihr Leben. Die Beschwerden könnten durch die Cannabispflanze deutlich reduziert werden. Beim Versuch, auf diversen Wegen medizinisches Cannabis für meine Oma zu besorgen, stoße ich den-noch nicht nur einmal auf Widerstand. Von Ronny Taferner (Text und Fotos)
Bild: Die gutmütigste, zufriedenste und liebenswürdigste Person, die ich kenne: meine Oma
Ein Glas Wasser steht auf dem Tisch, mehr braucht sie nicht. In meine Augen schaut die gutmütigste, zufriedenste und liebenswürdigste Person, die ich kenne: meine Oma. 67 Jahre alt. Dass die schulterlangen dunkelbraunen Haare nicht gefärbt sind, glauben ihr die wenigsten. Wie gerne ich mich an die Wochenenden vor zehn Jahren erinnere, als ich mit meiner Schwester bei Oma übernachten durfte. Oft hat sie uns von ihrer Vergangenheit erzählt, selten von ihrer Krankheit. Ich habe das Gefühl, sie wollte uns damit nicht belasten.
12. Jänner 1992.
Die vielen bunten Heißluftballone sind an diesem strahlend blauen Sonntag nicht zu übersehen. Rosa spaziert mit ihrer Tochter auf einem Forstweg am Hausberg, dem Gumma, im Salzburger Lungau. Plötzlich spürt sie einen kurzen blitzartigen Schmerz am Rücken. Sie ahnt noch nichts vom Beginn der lebenslang andauernden Krankheit.
Letzte Ölung.
Am Abend verstärken sich die Schmerzen. Altbekannte und selbstgemachte Hausmittelchen sollen Linderung schaffen: Topfenwickel, Arnikaöl und Harzsalbe. Die Schmerzen breiten sich über Nacht drastisch aus: Hände, Knie, Rücken … – kaum ein Gelenk bleibt verschont. Durch die unerträglichen Schmerzen schwitzt sie am ganzen Körper stark. «Ich konnte mich kaum mehr bewegen, meine Gelenke waren starr.» Der Hausarzt vermutet eine bakterielle Infektion. Sie wird täglich mit Cortison vollgepumpt. Oma Rosa fühlt sich kaputt. Sie hat eine starke Abneigung vor Krankenhausaufenthalten, doch die Schmerzen sind stärker. Nach vier Wochen voller Qual beschließt sie, sich von ihrem Mann ins Spital fahren zu lassen.
Im Krankenhaus bessert sich die Situation nicht – im Gegenteil: Oma Rosa bricht zusammen, erleidet einen Lungeninfarkt, eine Thrombose, muss sich einer Magenspiegelung unterziehen, kommt auf die Intensivstation und erhält schließlich die letzte Ölung. Es dauert weitere zwei Wochen, bis die Ärzte endlich eine Diagnose feststellen: Lupus erythematodes. Die Lebenserwartung damals: zehn Jahre, die Krankheit: unheilbar. Bei ihrem Hausarzt ist sie die erste Patientin mit dieser Diagnose. Das Wissen über diese Autoimmunerkrankung ist gering. Oma Rosa ist zu diesem Zeitpunkt 40 Jahre alt.
Ein Anliegen.
17. November 2018, 12 Uhr, im Veranstaltungsraum des Hotels Kolping Wien im 6. Bezirk. In die erste Reihe mittig traut sich niemand hin. Noch neun Minuten bis zum Beginn des Vortrags von Dr. Kurt Blaas. Endlose Stille, unterbrochen durch kurzes, leises Geflüster. Schüchterne Blicke – nicht länger als eine Sekunde. Knapp 50 Menschen starren angespannt gegen die Wand. Vereinzelt halten sie Notizblöcke in der Hand und spielen nervös mit dem Kugelschreiber. Hier treffen sich Männer und Frauen jeden Alters – mit demselben Anliegen: Sie wollen Informationen über die Cannabispflanze als Heilmittel erhalten. Vielen sind die Müdigkeit, Trägheit und Krankheit in den Gesichtern abzulesen.
Blaas beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit Cannabis-Medizin. Einmal pro Monat veranstaltet er einen einstündigen Informations-Vortrag über Cannabis als Heilmittel. Die Besucher und Besucherinnen werden unter anderem über das österreichische Recht, die Ausstellung und Bewilligung, Präparate sowie Krebs im Zusammenhang mit Cannabis informiert.
Für Blaas findet derzeit eine «Renaissance» der Hanfmedizin statt. Im Internet gäbe es über 500 deutschsprachige Seiten zum Thema. «Circa 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung wissen gut über Cannabis Bescheid, aber nur sieben Prozent der Ärzte und Apotheker», sagt er. Beinahe jeder Arzt dürfe Cannabinoide verschreiben, kaum einer setze sich aber mit diesem Thema auseinander: «Oft haben sie Angst, einen schlechten Ruf durch ‹Drogenpatienten› zu bekommen.»
Keine Zuversicht.
Für die Krankheit meiner Oma empfiehlt die Powerpoint-Folie die natürliche Cannabisblüte Bediol in Form des Granulats (6 % THC und 8 % CBD).
Das ist aber in Österreich nicht legal erhältlich. Stattdessen wird bei uns fleißig das durch Anreicherung hergestellte THC-Medikament Dronabinol verschrieben. Dieses enthält im Gegensatz zu Blüten nicht das breite Cannabinoid-Spektrum von natürlichem Cannabis (etwa 100 Cannabinoide sind in der Pflanze enthalten). Dafür kostet es etwa zwölfmal so viel wie Bediol, wo es legal erhältlich ist, und ein Suchtmittelrezept ist notwendig.
Der Vortrag bekräftigt meine Überzeugung, dass Cannabis gegen die Krankheit meiner Oma helfen könnte. Er zeigt mir aber auch, wie schwierig es ist, an medizinisches Cannabis zu kommen: Ungefähr 20 Ärzte und Ärztinnen verschreiben Hanfmedikamente in Österreich. Und dass es vor allem eines ist: teuer. Mindestens 400 Euro im Monat würde die Cannabis-Behandlung für meine Oma kosten. Das geht sich mit ihrer bescheidenen Bauernpension bei weitem nicht aus. Die Kostenübernahme durch die Krankenkasse erfolgt nur nach einer chefärztlichen Bewilligung. Im Schnitt werde weniger als ein Drittel übernommen, stellt Blaas ernüchtert dar. «Bei Ablehnung kann man zwar gegen den Bescheid klagen, das dauert aber mindestens ein Jahr.» – Zeit, die chronisch und schwer erkrankte Menschen oft nicht haben. Die Antwort auf die Frage, ob er zuversichtlich sei, dass sich an dieser Situation etwas ändert, wird durch seinen Gesichtsausdruck verdeutlicht. «Nein.»
Cannabis-Shops sprießen.
Es ist schon ein eigenartiges Gefühl, das erste Mal einen Cannabis-Shop zu betreten. In Österreich gibt es bereits über 80 davon, und jährlich werden es mehr. «Oft steht jemand minutenlang vor dem Schaufenster, bevor er sich reingehen traut», erzählt mir der ruhig wirkende Verkäufer vom Magu CBD Shop in Wien. Erwartungsvoll berichte ich ihm von der Krankheit meiner Oma und frage ihn, was er empfehlen kann. Schnell werde ich enttäuscht, denn Informationen oder eine Beratung darf auch er mir nicht geben – das ist gesetzlich verboten. «Es kommen oft verzweifelte Menschen, die in Cannabis eine letzte Chance sehen. Weil ich sie nicht beraten darf, gehen viele wieder enttäuscht nach Hause», so der Verkäufer. Worüber er reden darf und kann: die Pharmaindustrie und ihre große Lobby. Diese lehne eine Legalisierung von medizinischem Cannabis klar ab, weil es ihr nur um den Profit ginge. Durch eine Legalisierung würde ihr viel Geld entgehen. «Mit der Gesundheit der Menschen verdient die Pharmaindustrie kein Geld, sondern mit deren Krankheit.» Es gebe für alles Pillen und hoch chemische Medikamente, pflanzliche Alternativen würden hingegen nicht gefördert werden. Als erschreckend bezeichnet er vor allem das blinde Vertrauen älterer Menschen in den Arzt: «Sie vergöttern die Meinung des Arztes und vertrauen ihm zu 100 Prozent.»
Währenddessen betreten zwei junge Männer aus Australien den Laden und fragen nach Cannabis zum Rauchen. Der Verkäufer weist dreimal darauf hin, dass hier nur CBD-haltige Blüten verkauft werden dürfen. Sie kaufen dennoch Blüten und wollen anschließend noch wissen, wo man Filter und Papers erwerben könne. Ob sie beim Rauchen über die fehlende berauschende Wirkung verärgert sein werden?
Boomendes Geschäft.
Ähnliche Bilder sieht man auch in anderen CBD-Shops in Wien. Der tätowierte Verkäufer im Shop an der Alser Straße erzählt etwa von einer Stammkundin, die für ihren Hund CBD-Blüten kauft. Seitdem habe sich die Anzahl der epileptischen Anfälle des Tieres pro Tag von acht auf einen reduziert. Die Verkäuferin in der Hanfbotschaft Wien, die neben einem Shop auch ein Cannabispflanzenmuseum beinhaltet, betont die Vielfalt ihrer Kund_innen. «Nicht selten schleppen Enkelkinder ihre Großeltern hierher. Zuerst sind vor allem die älteren Menschen skeptisch. Dann bemerken sie, dass es hilft, und besorgen sich drei Wochen später Nachschub.» Immer wieder kämen vor allem ältere Damen, die eigenständig mit dem Wirkstoff CBD herumexperimentieren und nun «das eine oder andere Pulver weglassen». Die Krankheit meiner Großmutter ist ihr bekannt, denn sie leidet auch am Lupus – wenn auch in abgeschwächter Form. Genaue Empfehlungen traut auch sie sich nicht zu geben, immerhin könne man mit CBD nichts falsch machen.
Mitten in Wien an der Mariahilfer Straße befindet sich ein Growshop – ein Geschäft, das Cannabispflanzen und Zubehör für die Zucht verkauft. Im Bushplanet – City Grow ist auf 400 m² alles rund um die Hanfpflanze zu finden: verschiedene Pflanzen und -samen, Dünger, Beleuchtungen, Zuchtboxen, Bewässerungssysteme, Schneidemaschinen und vieles mehr – all das kann legal erworben werden. Das Geschäft boomt, wie der rege Kundenbesuch an diesem Montagnachmittag zu erkennen gibt.
Es wird mir immer mehr bewusst, dass hinter dieser Pflanze weit mehr steckt als nur die heilende Wirkung. Vielmehr scheint sich um sie herum ein großer Markt zu entwickeln, bei dem wirtschaftliche Interessen im Vordergrund stehen. Ein Kuchen, der stets wächst und an dem alle mitnaschen wollen.
Ein Club, der Cannabis vertreibt.
Einen radikalen Ansatz verfolgen die Cannabis Social Clubs (CSC), die bereits in den meisten europäischen Ländern existieren, auch in Österreich. Ziel dieser spendenfinanzierten Projekte ist es, kranke Menschen auf unkomplizierte Weise mit Cannabisprodukten zu versorgen. Der CSC in Wien habe 223 Mitglieder, sagt man mir. Hauptsächlich handle es sich dabei um Krebspatient_innen, die auf diese Art den legalen, mühsamen und teuren Weg zur Cannabisbeschaffung umgehen, so Markus Winter, Obmann des CSC. «Die Wirkung ist bei vielen Krebspatienten zu sehen. Nach einem Monat fühlen sie sich lockerer, strahlen Lebensfreude aus und haben ein positives Gefühl.» Der CSC in Wien arbeite mit einem Schweizer Labor zusammen und züchte Cannabispflanzen auf einem Hektar in der Steiermark. Das ist zwar nicht legal, verstecken wollen sich die Aktivist_innen aber trotzdem nicht. Sie kämpfen für eine Legalisierung von Cannabis. «Wir kooperieren mit einem Arzt, wodurch es möglich ist, Cannabismedikamente individuell auf den Patienten abzustimmen.» Für meine Oma reiche allerdings CBD, meint – anders als Mediziner Blaas – CSC-Obmann Winter.
Aber vielleicht ist es sogar besser: Meine Oma, die nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tut, könnte nicht mehr schlafen, wenn sie wüsste, dass sich das Beziehen von THC-haltigem Cannabis über den Social Club im Bereich der Illegalität abspielt. Da muss ich gar nicht ausführen, wie sie zu Schwarzmarkt-Cannabis steht. Obwohl es günstiger und unkomplizierter erhältlich ist: ein Gramm der Hanfblüte kostet etwa 10 Euro.
«Ich wollte normal leben».
Die Krankheit nimmt meine Oma im Jahr 1992 sehr mit. Nach dem fünfwöchigen Krankenhausaufenthalt muss sie weitere Wochen zuhause im Bett verbringen. Stets sorgt sie sich um die ausstehende Hofarbeit. «Ich wusste nicht, wie es weitergeht und war nervlich in einem schlechten Zustand.» Nach zwei Monaten beginnt sie die Krankheit zu akzeptieren. Seitdem geht es stetig leicht bergauf. «Ich wollte normal leben.» Sie beschäftigt sich zunehmend mit Naturheilkunde und Heilkräutern: Täglich trinkt sie mindestens zwei Liter Tee (Brennessel, Johanniskraut, Schafgarben, …) und verwendet selbstgemachte Salben und Öle. Für viele Ärzte ist es wie ein Wunder, dass meine Oma noch lebt. «Ich bin überzeugt, dass mir die Naturheilkunde hilft – sonst würde es mir nicht den Umständen entsprechend gut gehen.»
Ich erzähle meiner Oma von meinen eher ernüchternden Erkenntnissen: Es ist mit großem Aufwand, einem noch größeren Geldhaufen und nur mit der größten Portion Geduld möglich, medizinisches Cannabis legal zu besorgen. Außer man beschränkt sich auf CBD-Blüten: Das ist zwar nicht billig, aber zumindest leicht erhältlich – hat aber bei weitem nicht die gewünschte Wirkung wie eine Kombination aus THC und CBD. Ich kaufe meiner Oma CBD-Öl (mittlerweile per Erlass der Gesundheitsministerin verboten, Anm. d. Red.) und Hanf-Tee. Es wird zwar ihre Krankheit nicht bekämpfen, schaden tut es aber auch nicht.
Auch wenn die Vorgehensweise der Pharmaindustrie und die gesetzliche Lage bezüglich Cannabis bei Oma Rosa auf Unverständnis stoßen: Sie nimmt es achselzuckend hin und wird weiterhin auf Naturheilkunde setzen, abwarten und Kräutertee trinken. Nicht noch mehr Zeit will sie mit Arzt- und Behördenbesuchen verschwenden, um irgendwie an Cannabismedikamente zu kommen.
Denn Zeit ist schließlich kostbar und begrenzt. «Ich bin dankbar, dass ich die Hochzeiten meiner Kinder und die Entwicklung der Enkelkinder erleben durfte. Die Zeit mit meiner Familie genieße ich am meisten», sagt sie glücklich. Und greift nach meiner Hand.
700 Betroffene
Der Lupus erythematodes gehört zur Gruppe der systemischen Autoimmunerkrankungen. Bei dieser Krankheit richtet sich das Immunsystem, das vor Infektionen und Krebs schützen soll, gegen das eigene gesunde Gewebe. Es können verschiedene Organe betroffen sein. Die häufigsten Symptome sind: Gelenkschmerzen, Müdigkeit, Leistungsschwäche, Hautveränderungen, Nierenbefunde, Gelenkentzündungen, Lymphknotenerkrankungen, Schleimhautveränderungen und Magen-Darm-Beschwerden. In Österreich sind vom Lupus erythematodes in etwa 7000 Menschen betroffen.
THC in OCB is’, was ich dreh
Der Anbau von zugelassenen Hanfsorten ist legal, wenn nicht der Vorsatz besteht, die Pflanzen zum Blühen zu bringen und das Harz zu verarbeiten. Nur durch viel Licht (18 Stunden pro Tag) in der Wachstumsphase und (12 Stunden pro Tag) in der Blütephase kann die Pflanze Blüten bilden. Denn in der Blüte entwickelt die Pflanze den berauschenden Stoff THC (Tetrahydrocannabinol). Der THC-Gehalt von Cannabis darf 0,3 % nicht überschreiten, ansonsten ist es illegal (Ausnahme: ärztlich verschrieben). Im Gegensatz dazu waren Lebensmittel, die den Wirkstoff Cannabidiol (CBD) enthalten, bis zum umstrittenen Erlass von Gesundheitsministerin Hartinger-Klein vom Dezember letzten Jahres legal erhältlich. Seither wartet die Branche auf eine eindeutige Klärung der gesetzlichen Rahmenbedingungen für den Verkauf. von CBD-Produkten.