Ein Stadtspaziergang in Třebíč am Tag des grünen Bieres
Seit dem Jahr 2003 gehört die jüdische Altstadt von Třebíč zum UNESCO-Weltkulturerbe. Chris Haderer (Text und Fotos) war in Tschechien und hat dort eine wahre Berg- und Talfahrt hinter sich gebracht.Es ist ein Ghetto, das lässt sich nicht verleugnen, aber ein schönes. Darum steht das Třebíčská židovská čtvr, wie das jüdische Viertel der mährischen Stadt Třebíč auf Tschechisch genannt wird, auf der Liste des UNESCO-Weltkulturerbes – als einziges derartiges Denkmal außerhalb von Israel, wie die Eigenwerbung der Stadtväter und -mütter behauptet. Třebíč ist eine Bezirksstadt in Tschechien, knapp eine Autostunde von Znaim entfernt. Fast 37.000 Menschen leben hier. Es ist eine Stadt, die sich entwickelt. Schuhherstellung, Holzverarbeitung sowie Maschinenbau sind die wirtschaftlichen Schwerpunkte; das jüdische Viertel und der jüdische Friedhof, die St.-Prokop-Basilika und ein Schloss die touristischen. Dass auch die Herstellung von Kernkraftwerksausrüstungen zu den wirtschaftlichen Schwerpunkten gehört, die dann in Dukovany oder im knapp 130 Kilometer westlich von Třebíč gelegenen Temelín eingesetzt werden, trübt die Optik ein wenig. Als wären Tschernobyl und die anhaltende Kernschmelze in Fukushima keine guten Lehrer gewesen, bezieht Tschechien ein gutes Drittel seines Energiebedarfs aus Atomstrom. Als Motor für neue Arbeitsplätze gilt in Třebíč aber nicht die «Deaktivierung» von Reaktorkatastrophen, sondern – Jehova sei Lob und Dank! – der Tourismus, der durch das UNESCO-Weltkulturerbe entstanden ist.
Die Grenzen des historischen Ghettos von Třebíč werden vom Fluss Jihlava gezogen, der über Thaya, March und Donau letztlich im Schwarzen Meer mündet. Im südlichen und deutlich größeren Teil der Stadt lebten die Christ_innen. Im Norden des «Igels», wie der Jihlava auf Deutsch genannt wird, siedelten die Jüd_innen: in einem steilen und felsigen Hanggebiet, das die Architektur des Viertels prägt. In den Stein gewachsene Häuser, schmale Straßen mit einem Belag, der jeden Stöckelschuh in Sekundenbruchteilen zerstört. Es ist eine Wanderung durch eine andere Welt, in der Autos fehl am Platz wirken, obwohl sie da sind und die Altstadt verschandeln. Alles ist eng, verwinkelt und verwachsen – oder besser: gewachsen. Ein einzelnes Haus gibt es nicht – alle sind irgendwie miteinander verbunden, und sei es über den Fels. Es sind steile Wege, vom Fluss ganz unten bis zum Jüdischen Friedhof ganz oben. Mit etwa 3000 Gräbern ist er einer der größten in Tschechien. Gleich hinter dem Friedhof kommt eine «Schlucht», der nächste Ortsteil, das Katzenviertel. Überhaupt ist Třebíč eine hügelige Gegend; nicht so weitläufig wie Rom, aber ein bisschen wie Alpbach, was die Höhenunterschiede angeht.
83 Jahre in Třebíč. In der Konditorei Cukrárna U Tetris treffe ich Susana Urbanová, die eine ganz besondere Lebensgeschichte hat. Mit ihren 83 Jahren ist sie die einzige Jüdin, die Třebíč auch während der Nazizeit nicht verlassen hat und immer noch dort wohnt. Dass sie dem Vernehmen nach die letzte «echte» Jüdin von Třebíč ist, betrachtet sie fast wie eine Auszeichnung. Sie sagt, dass sie in «v zidech» wohnt, «in den Juden», was besser klingt als das Ghetto, dass die rüstige Frau, der man ihr Alter nicht ansieht, noch erlebt hat. «Ich wurde am 6. Oktober 1933 in Třebíč geboren», sagt Susana. «Mein Vater war Jude, meine Mutter Christin. Im Mai 1942 wurden alle Juden aus Třebíč abtransportiert – nur die aus gemischten Ehen nicht. Die Juden haben im Judenviertel gelebt, weil sie sich in der Stadt nicht mehr aufhalten durften. Ihre Häuser wurden ausgeräumt, sobald sie weg waren, und sofort mit neuen Bewohnern besetzt. Sie wurden entweder verschenkt oder verkauft, so als würde man nicht damit rechnen, dass jemand zurückkommt.» Es kam auch niemand zurück. Susanas Vater, der zuerst beim Ausräumen der verlassenen Häuser helfen musste, wurde ebenfalls abgeschoben. «Das war Weihnachten 1942», erinnert sich Susana. «Im März 1943 bekam meine Mutter dann die Nachricht, dass mein Vater in Auschwitz gestorben ist.» Die Mutter verließ Třebíč und zog in die Slowakei, Susana blieb bei einer befreundeten Familie.
Nicht alles, was in den letzten Jahren im jüdischen Viertel an Sanierungen geschehen ist, gefällt ihr: Manche Häuser sind ihr zu bunt, und auch verschiedene Stuckverzierungen, mit denen einige Kunsthandwerksläden ihre Fassaden verhübscht haben, sind nicht nach ihrem Gusto. Durch die Folgeerscheinungen des Tourismus, den die UNESCO nach Třebíč gebracht hat, verliere das restaurierte jüdische Viertel etwas von seiner Authentizität. «Hier haben früher arme Leute gewohnt», sagt Susana. «Jetzt gibt es Lokale und Geschäfte, und die Leute reißen sich um die Häuser.» Vermutlich ist verkitscht das richtige Wort für das, was Susana Urbanová meint: ein in Zuckerlpapier verpackter Holocaust. Geschichte aus der Sacher-Torten-Schachtel. Aber allen Veränderungen und dem Schwinden der jüdischen Kultur zum Trotz bleibt Susana Urbanová: «Ich war mein ganzes Leben in Třebíč », sagt sie. «Und ich würde auch niemals aus dem jüdischen Viertel wegziehen.»
Ein paar Gassen von Susana Urbanovás Wohnhaus entfernt betreibt Vladimír Pisk einen kleinen Antiquitätenladen. Wie die TARDIS von Doctor Who ist er drinnen größer als draußen und vollgestopft mit unterschiedlichsten Versatzstücken, von Bildern, Gasmasken, alten Geräten über Kunsthandwerk bis hin zu echten Antiquitäten und alten Werkzeugen. Seltene Sammlerstücke sind es vielleicht nicht, die man hier findet, aber auf jeden Fall etwas Interessantes. «Der Laden entstand vor etwa neun Jahren», erzählt Vladimir. «Wir haben uns auf Sachen spezialisiert, die bis 1945 zu haben waren. Zu 90 Prozent kommen unsere Stücke aus der Gegend von Třebíč. 60 Prozent unserer Kunden sind Touristen, die die Altstadt besuchen, der Rest sind Stammkunden, die immer wieder kommen.»
Ich wandere weiter durch die Altstadt, vorbei an der Firma Kapucín, die Repro- und Kopierdienste anbietet und von Milan Šťastný geleitet wird. Milan ist so etwas wie eine graue Eminenz in Třebíč: Er ist in die Sanierung des jüdischen Viertels involviert und für verschiedene kulturelle Aktivitäten der Stadt verantwortlich. Milan schleppt mich zu einem Lokal am Rand des jüdischen Viertels, ins Hostinec Na Staré radnici, das alte Rathaus. Die Einrichtung ist ungewöhnlich: eine Mischung aus Käpt’n Nemo und einem Alternativbeisl. Die Klotüren sehen aus wie riesige Panzerschränke, an der Wand steht ein Aquarium im Steampunk-Design, in dem Luftblasen aufsteigen und U-Boote schwimmen. Es sieht ein bisschen aus wie eine Szene aus «20.000 Meilen unter dem Meer». Auch die Lampen sind ungewöhnlich, schräge Formen, industriell, aber von vor 60 oder mehr Jahren.
Steampunk im Beisl. Das Hostinec Na Staré radnici ist kein gewöhnliches Gasthaus, sondern hat einen ganz eigenen Charakter: «Es ist nicht schwer zu erkennen, dass ich bei der Gestaltung von Jules Verne inspiriert war», sagt Jiří Kratochvíl, der das Industrial Design des Lokals entwickelt hat. «Seine Ideen haben mich schon immer fasziniert – genauso wie das tschechische Heimwerkerwesen. Das habe ich dann weiterentwickelt, bis Kunst daraus geworden ist.» Jiří ist Bauschlosser und arbeitet mit Materialien, die er in alten Fabriken und auf Schrottplätzen findet. Neben seinen Installationen stellt er auch Gitarren aus Blech her, die von Musikern gerne gespielt werden: «Weil sie cool aussehen und gut klingen», sagt Jiří.
Es wird Bier ausgeschenkt, preislich an der Stammwürze orientiert: Ein Černá Hora mit zehn Grad kostet 24 tschechische Kronen (laut offiziellem Wechselkurs etwa 90 Cent), ein Jezek mit elf Grad 28 Kronen. Alles was stärker ist, muss man nicht wirklich trinken, weil der Abend sonst verfrüht zu Ende geht. Am Gründonnerstag gibt es das Hora auch in Grün – nur an diesem Tag und nur vom Fass. Bier mit Lebensmittelfarbe, das genauso schmeckt wie das normale Bier, nur halt grüner. Das ist Alltagsfolklore in Tschechien, so wie es mindestens dreimal in der Woche Knödel geben muss, auch zum Spinat.
Über eine schmale Fußgängerbrücke überquere ich den Igel und verlasse die Altstadt von Třebíč. Ich passiere den Karlovo náměstí, den 22.000 Quadratmeter großen «Karlsplatz», der von Wohnhäusern, Geschäften, Lokalen und Hotels umrahmt wird. Alles liegt nah beisammen: das vermeintliche Luxushotel, bei dem man sich fragt, auf welche Gäste es wartet, und der Hinterhof, in dem der Verputz abblättert und der mit Kisten, Werkzeug und Baumaterialien vollgestopft ist. Am westlichen Ende des Platzes hat die Monarchie den Kommunismus und die Revolution überlebt: Im Haus der Galerie Malovaný dům, stoße ich auf das «Kaiserpanorama», ein historisches 3D-Stereoskop. Man schaut in zwei Okulare wie in ein Fernrohr und betrachtet dreidimensionale Fotos von Třebíč. Früher, als die Damen noch in Rüschen- und Brokatkleidern durch die Stadt promenierten, waren auch Ansichten von fernen Plätzen dabei, wie Rom oder Kairo.
Ganz oben, auf einem Hügel gegenüber dem Judenviertel, fährt die Eisenbahn und überquert dabei eine der vielen Schluchten. «That‘s suicide bridge», erklärt mir Milan Šťastný gelassen. In seiner Stimme schwingt kein Sarkasmus mit, weil die Selbstmörder_innen-Brücke eben da ist. Wie so vieles andere auch, was zum Teil nur aus der Geschichte heraus erklärt werden kann. Und, während man fällt, hat man einen wirklich sehr schönen Blick auf Třebíč.