Post, Unterwelt, Knast, Gruft, Augustin: Die Etappen des Christian "Snoopy" M.
Christian kommt aus der Post. Der Vater arbeitete 35 Jahre lang in der Postdirektion, also trat auch Christian den Postdienst an, der sieben Jahre lang sein Auskommen sicherte. Ein Autounfall beendete diesen Lebensabschnitt. Fersenbeinzertrümmerung und anderes. Zwölf Schrauben im Bein. Sein Körper war arbeitsmarktnonkonform geworden, dann wurde es auch sein Wille. Snoopy, wie Christian M. von seiner Umgebung genannt wird, tauchte in die Welt der Strizzis und Ganoven ab.Für Christian war auch die Unterwelt eine Arbeitswelt – allerdings eine, in der man in seinem Zustand, als Arbeitsloser mit ramponiertem Körper, rasch viel Geld verdienen konnte. Die Dimension? 40.000 bis 45.000 Schilling im Monat, behauptet Christian. Durch Stoßspielen, Zuhälterei und diverse Dienste, für die es keine Verdienstorden der Republik gibt. Damals sei er regelrecht spielsüchtig gewesen, davon habe er sich heute befreit. In das illegale Stoßspiel war er schon hineingeraten, als er noch seinen Postlergehalt bezog. „Beim Stoß kann man in einer Nacht drei Millionen Euro gewinnen“, sagt er. „Verlieren auch. Ich habe im Prinzip zu viel verloren. Ich greife heute keine Karten mehr an. Schon Karten – aber nur mehr für Theaterpartien im Schnapsen.“
Der Staat als Glücksspielmonopolist verbietet das Stoßspiel (Regeln im Kasten unten). Es muss daher meist in versteckten Hinterzimmern gespielt werden. Wenn das Lokal nicht ohnehin der Stoßpartie gehört, kann der Lokalbetreiber für ein geheimes Spielzimmer 200 Euro Miete pro Stunde kassieren. „Beim Stoßspiel treffen sich viele große Ganoven. Die Größen der Unterwelt sind für uns daher dort leicht erreichbar.“ So begründete einst ein ranghoher Polizist die relative Toleranz, die die Exekutive gegenüber dem Stoß walten ließ. Zum Stoßspiel alter Wiener Tradition haben ausschließlich Männer Zutritt: Zuhälter, Kriminelle und einige vertrauenswürdige Herren aus der regulären Ökonomie, z. B. reiche Geschäftsleute. Letztere werden gelegentlich wie die goldene Gans gerupft, wodurch die von Christian genannte Summe nicht unbedingt als „Hausnummer“ zu betrachten ist. Die Hochzeit des Stoßspiels ist längst Vergangenheit.
Stoß plus Zuhälterei war am Gürtel gängige Strizzikombination. „Ich habe zwei Nutten gehabt“, gesteht Christian. „Sie sind für mich auf die Straße gegangen, aber man kann nicht einfach sagen, sie hätten für mich gearbeitet. Wir haben miteinander Geld verdient. Als Zuhälter bist du der Aufpasser. Du sitzt daheim vor dem Fernseher, oder im Lokal, und musst dein Handy immer aufgedreht haben. Wenn dich deine Nutten anrufen, musst du bereit sein. Du musst erscheinen, wo das Problem auftaucht, und musst den Überlegenen spielen. Den Meister hervorkehren. Du verdienst viel, aber dir bleibt auch nichts. Denn um dazuzugehören, musst du mit einem 500er Mercedes vor dem Stoßlokal einparken. Du willst den Machatschek spielen, der du nie bist, für die wirklichen Machatscheks war einer wie ich ein Niemand. Ich war kein Machatschek, sondern arbeitete für die Machatscheks. Ich arbeitete für die Wiener Unterwelt. Es ist kein leichtes Leben in diesem Milieu. Ich habe für die Adeligen schießen müssen. Das heißt, ein Machatschek gibt mir den Auftrag, eine gewisse Person mit einer gewissen Bemerkung zu provozieren. Wenn dieser entsprechend reagiert, muss ich abdrücken.“
Die Kunst des Gschichtldruckens
Einer der zu Sanktionierenden bekam Christians Kugel in die Niere, ein anderer in die Kniescheibe. Bei der Verhandlung gab Snoopy alles zu. Er fasste viereinhalb Jahre Schmalz (schriftsprachlich: Gefängnisstrafe) aus. Viereinhalb Jahre hinter Gittern sind genug, findet Christian. Funktioniert der Knast in konkreten Fällen doch hin und wieder als Abschreckungs- oder sogar Besserungsanstalt?
Noch vor der Haftzeit hatte sich Christian aus der dunklen Ökonomie lösen können. Er wurde Maroniverkäufer am Keplerplatz, später im Mariahilferstraßenbereich. Hier entwickelte er seinen Verkaufsschmäh, der sich dann in seiner Augustin-Zeit als Wettbewerbsvorteil rentabel machen sollte. Der Maronibrater erzählte Märchen über seine Kartoffelpuffer, die er „heute um fünf Uhr früh“ selbst produziert hätte, und über seine „Biomaroni“. Normale Maroni, erfuhren die KundInnen, wachsen auf einem Baum, bis sie heruntergeklopft werden. Seine Biomaroni müssten ausgegraben werden wie Trüffeln. Maroni verkaufen war für Christian identisch mit „Gschichtln einidruckn“. Eigentlich seien es die Gschichtln, überlegt er, die ihm nach der Unterweltkarriere das Geld brachten: sei es beim Maroni-, sei es beim Augustinverkauf.
Zum Augustin kam Christian vor etwa sieben Jahren. Damals schlief er in der „Gruft“, der Obdachlosenherberge der Caritas unter der Mariahilfer Kirche. Damals war der „Keller der Überflüssigen“ überfüllt wie heute: Der Fußboden war mit ÜbernachterInnen flächendeckend belegt. „In der Gruft ist das eingeteilt worden: Die schon lange dort sind, können in der ersten Reihe schlafen, während andere unter den Tischen liegen. Dadurch, dass ich Leute gekannt habe, habe ich immer an relativ bequemen Stellen schlafen dürfen. Probleme hab ich eigentlich nur mit den Frauen aus der Gruft gehabt. Wenn es ans Schnakseln ging, hast du nie gewusst: Sind sie krank? Sind sie nicht krank?“
Die „Gruft“-Sozialarbeiterinnen machten ihn auf die Möglichkeit der Straßenzeitungskolportage aufmerksam. Christian wurde Teil des Sandler- und Punk-Milieus der Mariahilfer Straße, das auf der Basis der gemeinsamen Erfahrung, hierorts unerwünscht zu sein, eine Art Zusammengehörigkeitsbewusstsein entwickelte, obwohl nicht nur ungleiches Alter, ungleiche Suchtmittel und extrem ungleiches Outfit für Abgrenzungen sorgen: „Die Punks gehen lieber schnorren als Augustin verkaufen“, erklärt Christian, ohne sich eine Erklärung dafür bieten zu können. „Ich hab mein ganzes Leben nicht geschnorrt“, betont er. „Bevor ich schnorren geh, ruf ich lieber 720 Personen an und frage sie, ob sie mir Geld geben.“ Heute fühlt er sich etwas einsam: als einer vom überlebenden Rest der legendären Augustiner-Partie Ecke Neubaugasse-Mariahilfer Straße. Drei seiner Freunde sind tot: „Socken-Chris“, ein junger Augustinverkäufer, starb durch Drogen, Kurtl starb an, wie heißt der Scheiß-Schnaps, das fällt mir jetzt nicht ein, eine Art Magenbitter“, auch Markus ist nicht mehr am Leben.
So eine Partie wird’s nie wieder geben, denkt Christian, und darin schwingt auch seine Unzufriedenheit mit der Öffnung des Augustin für afrikanische AsylwerberInnen mit, die auch in „seinem“ Revier das herkömmliche Bild des Augustinverkäufers verblassen ließen.
Über die latente Qualität des Augustin-Papiers
In den ersten Augustin-Jahren blieb Christian auch noch seinen Maroni treu. Frühling, Sommer und Herbst gehörten dem Augustin, der Winter den -keineswegs biologischen – Edelkastanien. Das Gschichtldruckn musste der Ware angepasst werden. Es hat keinen Sinn, den biologischen Augustin anzupreisen. Junge Pärchen spricht Verkäufer Christian mit Vorliebe an, intuitiv, nicht in einer vom Geschäftssinn vorgegeben kalkulierten Kundenauswahl. „Ihr zwei lieben, netten, interessanten Menschen. Hier habt ihr den Augustin, der daheim keinen Wirbel macht, der stubenrein ist, den man sogar lesen kann, böse Zungen sagen, es stehe mehr drin als in der Kronenzeitung.“
So raspelt unser Hero Süßholz am Standplatz. Dann raschelt er mit dem Papier, um die angeblich spezielle Papierqualität hörbar zu machen. Und fährt mit dem Raspeln fort: „Das spürt man richtig beim Rascheln, wozu der Augustin imstande ist. Wer ihn gelesen hat, kann ihn – eben wegen der besonderen Papierqualität – zum Fensterputzen verwenden.“ Man putze einmal das Fenster mit der Kone – der Vergleich macht sicher. „Nach dem Fensterputzen verwende man die Zeitung fürs Vogelhäusel, nach dem Vogelhäusel fürs Katzenkisterl, nach dem Katzenkisterl lege man den Augustin unter die Türdackn. Das ist das Beste zum Schutz der Privatsphäre. Wenn ein Besucher kommt, riecht ihm von der Türdackn herauf ein derartiger Gestank entgegen, dass er das Weite sucht. Das alles hat man mit einem Augustin – und schließlich hilft man den Obdachlosen.“
So ein Sprücherl ist zehn Euro wert, müssen wir dem Kolporteur bestätigen. Zum Stichwort Trinkgeld fällt unserem Gesprächspartner das Puff ein. Verhaltensspuren aus der Rotlicht-Periode? Zu den Gürtel-Buffs ziehe es ihn jedenfalls heute noch hin, weil die Damen ihm gerne den Augustin abkaufen und dabei mehr Trinkgeld als üblich geben.
Christian ist guter Hoffnung, demnächst eine 880-Euro-Pension beziehen zu können, sobald seine hundertprozentige Arbeitsunfähigkeit offiziell bestätigt ist. Mehr als die Hälfte davon werden Wohnung und Handy verschlingen. Knapp 400 Euro werden übrig bleiben, schätzt er. Für den Hund und für ihn selbst. Weil das nicht fürs Leben reiche, werde er weiterhin Augustin verkaufen. Möglicherweise wird die Palette der Verwendungsmöglichkeiten eines Zeitungsexemplars angereichert werden. Im Katzenkisterl, das fällt Christian noch ein, soll die Zeitung mindestens eine Woche liegen. Für den Geruch.
Kleiner Exkurs zum Stoß
Für das Stoßspiel sind 32 doppeldeutsche Karten erforderlich, die der so genannte Bankerer schneidet. Der Bankerer ist der Bankhalter, schneiden bedeutet mischen. Der Bankerer sitzt immer an der Längsseite des Tisches, an den anderen Seiten halten sich zwischen zehn und fünfzehn Spieler auf, das ist die so genannte Galerie. Der Bankhalter mischt nun die Karten und zeigt eine davon, die so genannte Guck, einem der Umsitzenden, dem so genannten Guckerer, meist der, der am höchsten wettet. Diese Karte wird zurück geschnitten. Die oberhalb des Beischnitts liegenden Karten werden nun vom Bankhalter nach unten gegeben. Die eingeschnittene Karte, die Guck, liegt somit oben. Das Paket wird jetzt umgedreht, wodurch die Guck nach unten kommt. Das Spiel beginnt. Die Spieler setzen ihr Geld. Dazu dienen zwei große rechteckige Tafeln, die am Tisch liegen. Jeder Ecke dieser Tafeln ist eine Karte der jeweils acht Karten von 7 bis As zugeordnet. An diesen Ecken stapeln sich in Windeseile grüne Türme von Geldscheinen. Nachdem gesetzt worden ist, zieht der Bankhalter zwei Karten ab. Die erste Karte, der so genannte Schuss, verliert, die zweite, der so genannte Einwender gewinnt. Wer auf die erste Karte gesetzt hat, verliert seinen vollen Einsatz an die Bank. Die Glücklichen, die auf die zweite Karte gesetzt haben, bekommen den doppelten Einsatz zurück. Die Wette auf die anderen Karten bleibt im Spiel. Werden zwei gleiche Karten gezogen, sind also Schuss und Einwender gleiche Karten, so gewinnt die Bank. Das Paket ist dann durchgespielt, wenn vierzehn Kartenpaare abgezogen worden sind. Die drei untersten Karten, die mit der Guck nicht gespielt werden, heißen der Stock. Der Geldverleiher oder so genannte Saugerl ist am Wiener Stoß eine Institution, weit mehr als eine stets Kredit gewährende Begleiterscheinung. Er beschließt den Ruin des Spielers.
(aus: http://www.wiener-rotlicht.info/index.htm)