Grenzerfahrungen in allen Richtungenvorstadt

Mit dem Faltrad entlang des «Eisernen Vorhangs» (Teil 2)

Der Eiserne Vorhang trennte bis 1989 Europa. Mario Lang (Text und Fotos) begibt sich erneut auf Tour entlang der ehemaligen Trennlinie. Diesmal geht es der nördlichen Grenze entlang von Riga bis zurück in den Wiener Schrebergarten.Minimalismus on tour. Die Packtasche wurde gewichtstechnisch weiter reduziert, eine einzige lange Hose, ein einziger Kapuzenpulli. Als Zusatzgepäck fahren diesmal ein Haus samt Bett plus Schlafsack, alles im handlichen Taschenformat, am Gepäckträger mit. Als unerfahrener Camper eine neue Herausforderung: Die Strecke führt auf 3.800 Kilometer durch acht Länder.

Auszüge aus dem Reiseblog:

1. Tag: Dienstag, 13. Juni (Lettland)

Anfangen tut’s nicht gut. Der erste Fettfleck verewigt sich schon beim Frühstück in Schwechat auf der einzigen langen Hose im Reisegepäck. Auch bei der Faltrad-Überstellung gibt es Probleme, viele Augen müssen zugedrückt werden, bis das Reisetransportmittel im Bauch des Flugzeugs verschwindet. Der Abflug verspätet sich, und bei der Landung in Riga ist das Faltrad nicht einsatzbereit. Gepäckträger und Kotflügel sind arg verzogen, das Hinterrad blockiert! Eine Reparatur mit meinem Minimal-Werkzeug scheint unmöglich. Endstation am Anfang? Nach eineinhalb Stunden treten, biegen, schrauben ist der Schaden behoben. Regen auf allen Wegen. Eine Kurzstrecke geht es über die A 10, bis ein Radweg gefunden ist, der mich nach Jūrmala, zur Badewanne von Riga führt: mehr als 15 Kilometer Sandstrand, putzige Holzhäuser, Villen und Burgen für betuchte Tourist_innen.

4. Tag: Freitag, 16. Juni (Lettland)

Die letzten Kilometer bis zum Schlafplatz gestalten sich als Übung für Fortgeschrittene. Eine sehr sandige Straße führt durch den Wald, fahren, schieben, fahren … Dafür steht mein transportables Haus auf einem Hügel mit Meeresblick, unterhalb Sandstrand, so weit das Auge reicht, keine Menschen, nur das Meeresrauschen und das Vogelgezwitscher aus dem Wald.

Die Morgenhygiene war weniger romantisch, aber das würde zu weit führen. Über sandige Wege zurück auf die Piste, die von Rehen und einem Fuchs gekreuzt wird. Zum üblichen Panorama – Wald, Straße, Wald und rechts das Meer – gesellen sich fette Wiesen und Felder. Das heutige Ziel ist Liepāja. Kurz vor Karosta, dem ehemaligen Kriegshafen des russischen Reiches und später der Sowjetunion, ragen Bunkeranlagen aus der Jahrhundertwende Richtung Meer, die Wellen haben den Ruinen über die Jahre schwer zugesetzt. Die letzte Station, das letzte Bild, dann brechen die Wolken. Waschelnass komme ich in Liepāja an. Heute gibt es ein Zimmer, und Johnny Cash kommt in die Handwaschmaschine, das Leiberl trage ich seit Dienstag am Körper, höchste Zeit …

8. Tag: Dienstag, 20. Juni (Russland/Polen)

Im russischen Kaliningrad ist Schluss mit Ruhe. Beton und Blech statt Wälder und Meer. In einem Wirtshaus werde ich durch heftiges Zuprosten aufgefordert, den Tisch zu wechseln. Das junge Paar kommt aus Birobidschan, von Kaliningrad über 9.000 Kilometer weit entfernt, nahe der chinesischen Grenze. Es macht Urlaub. Es wird getrunken, gelacht, Fotos gezeigt, nur die sprachliche Konversation will nicht funktionieren. Eine Übersetzungs-App hilft.

Genosse Lenin steht noch immer auf seinem Sockel und wärmt sich in der Morgensonne – Goodbye! Raus aus der Stadt, rein ins Land. Der Grenzübertritt nach Polen verläuft nicht reibungslos. Natürlich radle ich an der langen Autoschlange vorbei und überfahre ein Stopp-Schild. Da kennt der Grenzer keinen Spaß, darüber hinaus hat sich eine Packung Zigaretten zu viel in meinem Gepäck verirrt, aber auch das wird mit Charme gebügelt.

12. Tag: Samstag, 24. Juni (Polen)

Trotz mentaler Bestform geht mir gerade alles, um es kindgerecht zu formulieren, auf den Geist: die polnischen Kirtagsdörfer mit Strandzugang, das ganze Souvenirgerümpel, die zu befahrenden Untergründe, die Radwegbeschriftungen, das Wetter … Heute ist kein Tag für Fahrrad-Romantik, heute wird nur auf die Kilometerleistung geachtet – Bundesstraße! Im einstigen Fischerdorf Dąbki tobt wieder der Zirkus, rege Bautätigkeit, der letzte Ost-Charme wird beseitigt, um eine Vergnügungs-Wunderwelt mit Meerblick aus der Erde zu stampfen. Die letzten Kilometer sollten reine Formsache sein – fast –, die Realität hat immer Überraschungen parat. Die vermeintliche Spazierfahrt wird zur Expedition. Ein reiner Sandweg über fünf Kilometer. Rad schieben ist schlimm, Rad samt Gepäck tragen ist die Höchststrafe.

24. Tag: Donnerstag, 6. Juli (Deutschland)

Auf verschlungenen Wegen geht es durch die bucklige Welt von Niedersachsen und Thüringen. Felder, Dörfer, mehrmaliges Durchschneiden der ehemaligen Zonengrenze, Erinnerungssteine, Loch-Plattenwege … Zum Frühstück in Duderstadt bekomme ich eine Fluchtgeschichte aus erster Hand mitserviert. Siegfried Rothensee aus Thüringen war 16, als sich Freunde «für längere Zeit» von ihm verabschiedeten. «Nicht ohne mich», entschied er sich spontan zur Flucht. Es war ein Sonntag, Siegfried steckte im festtäglichen Anzug mit weißem Hemd. Bei Ecklingerode wählten die drei den Weg durchs Moor, «weil da die Minen nicht griffen». Beim Forsthaus «Rothe Warte» waren sind sie dann «drüben», Siegfried in seinem verdreckten Sonntagsanzug. Sein Bruder Karl-Heinz hatte zuvor weniger Glück, für versuchte «Republikflucht» ging er drei Jahre nach Bautzen in den Knast.

29. Tag: Dienstag, 11. Juli (Deutschland/Tschechien)

Die fünfte Reisewoche beginnt suboptimal, es schüttet wie aus Kübeln. Nasses Zelt einpacken, hinein in die noch immer nasse Montur. Es folgt die Dörfer-Tour bei geöffneten Schleusen. In dem ehemals geteilten Dorf Mödlareuth mit seinem Freilicht-Grenzmuseum ein unerwarteter Wasserstopp, gerade lange genug, um aufzutrocknen, bevor der nächste Wolkenbruch wieder den Ursprungszustand herstellt. Die letzten Kilometer vor dem «Dreiländereck» haben noch einiges zu bieten: einen kurzen selbstverschuldeten Verfahrer und massenweise vertrottelte Wegweiser. An einer einzigen Stange hängen Unmengen von Richtungsanzeigern, die sich gegenseitig widersprechen. Tschechien muss besser werden! Die ersten eineinhalb Stunden trete ich durch fast unberührte Natur. Die Wege sind vom Regen geschunden, auch sonst schwer befahrbar. In Cheb ist Schluss. Unabsichtlicherweise beziehe ich ein Zimmer in einem inoffiziellen Puff. Die Aufschrift «Bar & Pension» wäre eigentlich ganz eindeutig, aber wenn der Körper schwächelt, kränkelt auch der Geist.

32. Tag: Freitag, 14. Juli (Tschechien)

Ein kurzes Sonnengastspiel ist auch schon wieder vorüber, dafür gibt es ein fast freies Wochenende. Meine tschechischen Freund_innen Honsa und Hanka, kennengelernt am Campingplatz von Kolka (Lettland), kommen mich besuchen. Der vereinbarte Treffpunkt entfernt sich von der «Vorhang-Route» landeinwärts, nahe Prachatice. Aus dem Nichts schält sich ein See, eingerahmt von Wald mit einer kleinen Imbiss-Bude. Ein Rauschebart sitzt einsam auf einer Bank und spielt Banjo. Es ist bitterkalt, das Wasser dampft, die Fische springen, ein Feuer in einer Tonne vertreibt den Winter im Juli.

36. Tag: Dienstag, 18. Juli (Tschechien)

Mit dem Schiff geht es von Bítov die Thaya entlang bis zum Stausee bei Vranov nad Dyjí. Viele Windungen, an den Ufern stehen Kanus. «Ahoj!» Die Tschech_innen winken gerne, jedem vorbeitreibenden Ruderboot, jedem Ausflugsschiff, jedem Küstenbewohner. «Ahoj!» Wieder aufs Rad, das Service hat sich ausgezahlt, die beängstigenden Geräusche sind weg. Bei Čížov steht noch ein letztes Stück «Vorhang» – Panzersperren, Stacheldrahtzaun, Beobachtungsturm. Es geht durch den Nationalpark Thayatal, der Fluss weiß sich die meiste Zeit gut in der Tiefe zu verstecken. Rauf und runter auf erdigen Wegen, die Disziplin «Schieben» ist teilweise unvermeidlich. Übern Berg wächst der Wein, eine Nicht-Verkostung wäre ein Fauxpas.

39. Tag: Freitag, 21. Juli (Slowakei/Österreich)

Zeitig verlasse ich mein schwimmendes Hotel in Bratislava. Die Ufo-Brücke und die Burg von Bratislava zeichnen sich noch lange hinterm Rücken ab. Mit dem Zug nach Hause fahren wäre ein gravierender Schönheitsfehler. Also zum x-ten Mal rauf auf die endlose Gerade, immer den Damm entlang. Knapp 20 Kilometer vor Wien wird es plötzlich unrund. Nach rund 3780 Kilometern auf den unmöglichsten Untergründen geht dem Vorderreifen kurz vorm ultimativen Erfrischungsgetränk die Luft aus. 15 Minuten Pannenbeseitigung und 30 Minuten Restweg später sitze ich mit Freund Dieter in der Lobau unter einer Kastanie vorm «Knusperhäuschen» bei einem «Ansa-Menü»: Pferd in Semmel plus Hülserl. Großartig!

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