Großsiedlung mit Kleinstwohnungenvorstadt

Siedlung Siemensstraße: eine Publikation zu 70+1 Jahr

Nach dem 2. Weltkrieg musste in Wien aufgrund der exorbitanten Wohnungsnot ein «Soziales Schnellbauprogramm» Soforthilfe leisten. Ein Ergebnis davon ist die im Jahr 1950 im Eiltempo aus dem (fruchtbaren) Floridsdorfer Boden gestampfte Siedlung Siemensstraße. Erst letztes Jahr ist ihr zu ihrem 70-jährigen Bestehen wieder etwas mehr Aufmerksamkeit geschenkt worden: mit einer kleinen Ausstellung in einer sogenannten Duplexwohnung. Diesen Sommer folgte die begleitende Publikation mit dem Titel Wohngeschichten aus den 1950er/60er Jahren. Darin plaudern u. a. vier (ehemalige) Bewohner_innen äußerst unterhaltsam aus dem Nähkästchen.
Die Siedlung Siemensstraße ist zum Zeitpunkt ihrer Errichtung sogar die größte in der Bundeshauptstadt gewesen. Sie bestand aus rund 1.700 vorwiegend Kleinstwohnungen mit 30 bzw. 36 m2 Wohnfläche – ohne Bad, nur Küche und Zimmer. Für mehrköpfige Familien eine Herausforderung sondergleichen. Als Kompensation für die Beengtheit sollten großzügig angelegte Grünflächen und eine umfassende Infrastruktur innerhalb der Siedlung herhalten. Ein Nachkriegsnotprogramm sozusagen, das für bessere Zeiten die Zusammenlegung zweier benachbarter Kleinstwohnungen vorsah. Daher auch der Begriff Duplexwohnung.
Umgesetzt wurde dieses ausgefeilte Megaprojekt nach dem Konzept und den Plänen des Architekten Franz Schuster: fachlich eine Koryphäe, aber sehr verhaltensoriginell. Obwohl Schuster im progressiven linken Umfeld großgeworden ist, diente er sich später schamlos den Nationalsozialisten an. Nach dem 2. Weltkrieg rückte die Planierraupe des Vergessens heran, alsbald arbeitete er wieder für die Gemeinde Wien, etwa für die Per-Albin-Hansson- Siedlung, das erste große Nachkriegssiedlungsprojekt.
Das kleine Manko der Publikation zur Siedlung Siemensstraße ist ihr kleiner Umfang. Dieses Thema ist historisch betrachtet hochinteressant, aber auch für die Zukunft so relevant hinsichtlich der aktuellen Knappheit an leistbarem Wohnraum, dass sie sich eine noch intensivere Aufarbeitung verdient hätte. Davon überzeugen Sie sich am besten selbst bei einem herbstlichen Spaziergang durch die Siedlung – und lassen Sie sich von Wohnpartner Team 21 die Duplexschauwohnung aufsperren!

Wolfgang Fichna, Werner Michael Schwarz,
Georg ­Vasold, Susanne Winkler (Hg.):
Wohngeschichten aus den 1950er/60er Jahren.
Die Siedlung Siemensstraße in Wien-Floridsdorf
Mandelbaum Verlag 2021
144 Seiten, 15 Euro