Großstadtdschungel im Verborgenenvorstadt

Im wortwörtlichen Sinne: Gras über ein Unternehmen wachsen lassen

In einem verbauten Gebiet in Wien entdeckte Jan Arrocaba (Text) ein Naturjuwel, wie man es in diesem Grätzl wohl kaum vermuten würde. Er machte sich mit seinem Sohn auf Foto-Pirschgänge.

In der unmittelbaren Umgebung meiner Wohnung – beileibe nicht am Stadtrand – ist wenig Natur zu finden. Die zwei Parks mit einigen Bäumen und den angeschlossenen Kinderspielplätzen sind dabei nicht der Rede wert. Zivilisationsmüll überall und die Zigarettenstummel auf den Kinderspielplätzen bilden einen Bodenbelag, der den Schluss zulässt, dass die aus den Gasthäusern vertriebenen Raucher_innen hier eine neue Heimstätte gefunden haben. Seit über einem Jahr kenne ich aber ein Naturjuwel, das nur wenige Schritte von meiner Wohnung in verbauter Lage entfernt liegt und seither in allen Jahreszeiten einen großen Reiz auf mich und meinen Sohn ausübt.

Ein Waldstück hat sich zu einem beinahe undurchdringlichen Dickicht verwandelt und umgarnt und vereinnahmt dabei die baulichen Reste. Eine Wiese stellt im Frühling bzw. teilweise auch im Sommer eine herrliche Blütenpracht zur Schau, deren Biodiversität auch einer Alm zur Ehre gereichen würde. Verfallene Schuppen mit vielen Relikten aus längst vergangenen Zeiten lassen die Gedanken an den «Wilden Westen» abschweifen. Neben mehreren Betriebsruinen, wo auf einer noch das Schild «Büro» zu lesen ist, strahlt eine verfallene Villa noch immer südländischen Flair aus, und die Satellitenschüssel am Dach scheint aus der Zukunft zurückgewandert zu sein. Im Winter genießt hier der Schnee noch das Privileg, länger weiß bleiben zu dürfen. Eine Eigenschaft, die er auf den Straßen Wiens beinahe schon mit dem Erstkontakt mit dem Boden verliert.

Informationsweitergabe über Generationen.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich dort jemand heimisch gemacht hat, der normalerweise ein anderes Habitat bewohnt. Neugierig trat er uns entgegen. Der Fuchs hatte offensichtlich seine Menschenscheu abgelegt, weil er sich sicher ist, hier auf keine_n Jäger_in zu treffen. Warum ich mir da so sicher bin? Weil ich vor vielen Jahren darüber aufgeklärt wurde, wie die Informationsweitergabe über Generationen hinweg auch bei Tieren funktioniert. Als mein Freund Karl K. mit mir in einem PKW durch ein enges Mostviertler Tal fuhr, wo neben der Straße die flachen Wiesen rasch in einen Bergwald übergehen, behauptete er, dass das äsende Reh-Rudel augenblicklich davonrennen würde, sobald er die Seitenscheibe nur einen Spalt öffnet, hatte ich «Das glaub’ ich dir nicht!» noch nicht einmal zu Ende gesprochen, da stoben die Rehe schon Richtung Wald. Wirklich verstehen konnte ich das spontane Verhalten der Rehe aber nicht. Erst als ich etwas später auf derselben Straße ein Auto mit einem aus dem Seitenfenster herausragenden Gewehrlauf eines Jägers sah, ging mir ein Licht auf. Gewiss sind Füchse, denen man ja besondere Schlauheit nachsagt, ebenfalls auf dem Laufenden bezüglich menschlicher (Jagd-)Gewohnheiten. Nur so viel: In meiner Jugend im Mostviertel bekam ich den dort heimischen Fuchs nie wirklich aus der Nähe zu Gesicht. Nur das Ergebnis seiner sporadischen Besuche im Hühnerstall, der stets nicht nur bei Hühnern, sondern auch bei meiner Mutter großes Wehklagen über die Verluste zeitigten.

Der städtische Fuchs fand hier im Wiener Naturjuwel jedenfalls ein angenehmes Habitat, und er empfindet menschliche Nähe (alle Spuren von anderen Besucher_innen oder Eigentümer_innen? lassen keinerlei wirtschaftliche Aktivitäten erkennen) eher als interessante kurzweilige Begegnung denn als Gefahr.

Abschließend steht eine Frage im Raum: Warum konnte sich dieses Betriebsgelände mitten in der Hektik und Kurzlebigkeit einer Großstadt in aller Ruhe zur Naturlandschaft aus zweiter Hand wandeln? Darüber kann spekuliert werden. Ein Erbschaftsstreit, ein Konkursverfahren, das sich in die Länge zieht, ein Eigentümer, der einfach Gras über sein Unternehmen wachsen lässt?