Grüne Angelgründevorstadt

Fischen für Vegetarier_innen

Casting ist zwar ein anerkannter Sport, hat aber mit Imageproblemen zu kämpfen. Mareike Boysen (Text) und Nina Strasser (Fotos) waren bei einem internationalen Wettbewerb in Liesing dabei.

Christian Zinner beugt sich so weit zurück, dass die drei Meter lange Angelrute, die er in der rechten Hand hält, parallel zum Boden in der Luft liegt. Die sogenannte Seitenwurftechnik hat der 24-Jährige mit einer ambitionierten Athletik ausgebaut. Vom 50 Zentimeter hohen Wurfpodest aus muss er die am Ende der Flugschnur befestigte Turnierfliege nun möglichst weit in den trichterförmigen Sektor vor ihm befördern. Als sie 63 Meter entfernt knapp neben einem Leitkegel im Kunstgras landet, gibt auch Zinner, der sich an der vorderen Podestkante durch Ruderbewegungen vor dem Absturz bewahrt hat, der Erdanziehungskraft nach. Kurz wischt er sich mit dem Handtuch durchs Gesicht, wartet das Signal der Wettkampfrichterin ab und zieht dann die Schnur schnell zurück, um sie in Schlaufen neben sich abzulegen. In der Disziplin «Fliege Weit, Einhand» stehen Zinner fünf Minuten und beliebig viele Wurfversuche zur Verfügung.

Turniererfahrungen.

«Christian ist derzeit unser einziges Supertalent», sagt Helmut Hochwartner. Casting, das sich als Turnierangeln auf der Wiese beschreiben lässt, beschäftigt den 74-Jährigen schon seit seiner Kindheit. Inzwischen ist er Präsident des österreichischen Verbands, Obmann des Casting-Sportclubs Wien, Teil des Weltverband-Präsidiums und österreichischer Teamchef in Personalunion. An diesem Samstagvormittag im Juli steht Hochwartner mit einem Klemmbrett am Rand des Rugby-Platzes in Liesing, den er für zwei Tage gemietet hat, und kontrolliert die Abläufe. Das internationale Turnier hat zwar für die Weltcup-Wertung keine Bedeutung, trotzdem sind Delegationen aus Deutschland, Polen, der Schweiz, der Slowakei und Tschechien angereist. Besonders der Nachwuchs soll sich hier auf die anstehende Junioren-Weltmeisterschaft im polnischen Puławy vorbereiten. «Der Wind steht ungünstig», stellt Hochwartner fest. «Damit muss man als Casting-Sportler umzugehen lernen.»

1998 stellte Hochwartner in Tallinn zuletzt einen österreichischen Rekord auf, den ihm noch keiner seiner Schützlinge streitig gemacht hat. In der Disziplin «Gewicht Weit, Einhand» gelang es ihm damals, das 7,5 Gramm schwere, tropfenförmige Geschoss 77,08 Meter weit zu katapultieren. Auf die Frage nach seiner Fangemeinde antwortet Hochwartner mit einem Lachen. «Wir sind eine Randsportart unter den Randsportarten», sagt er dann. «Natürlich haben wir in der Sportöffentlichkeit ein dramatisches Anerkennungsproblem. Auf der Wiese stehen und fischen – das hat kein Image.» Mit der Frage, ob er nun essen gehen könne und wo er dafür zahlen müsse, unterbricht ihn ein tschechischer Teilnehmer in seiner Muttersprache. Hochwartner antwortet auf Slowakisch, das aufgrund der sportlichen Dominanz der ehemaligen Ostblock-Länder zu einer der Verständigungssprachen im internationalen Casting-Betrieb geworden ist. Nachdem er dem Kollegen den Weg zur Kantine beschrieben hat, schüttelt Hochwartner den Kopf. «Uns fehlen hier die Strukturen und Zuständigkeiten», sagt er.

Fischereitradition.

Anders als in Österreich seien die Casting-Abteilungen in den meisten Ländern an die Fischereiverbände angegliedert, erklärt Hochwartner. Angler waren es auch, die den Sport in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Verbesserung ihrer Wurftechnik entwickelten. 1864 fand das erste offizielle Turnier in den USA statt. Um die Jahrhundertwende erreichte Casting zuerst die Britischen Inseln und unter der holprigen Übersetzung «Turnierwurfsport» darauf den deutschen Boden. Aus einer Abfolge von Trockenübungen sind inzwischen neun Wettkampfdisziplinen mit genauen Material-, Bahn- und Zeitvorgaben entstanden, von denen fünf dem Weit- und vier dem Zielwurf untergeordnet sind. Wer als Mehrkämpfer_in erfolgreich sein wolle, müsse wie in jeder anderen Sportart trainieren, sagt Hochwartner. «Und dafür stehen in Tschechien, Polen und der Slowakei ganz andere Infrastrukturen zur Verfügung.» Der Wiener Casting-Club dagegen verfügt weder über eigene Anlagen noch Möglichkeiten der regelmäßigen Nutzung von städtischen Sportstätten. In Österreich gilt für den Casting-Sport und seine Bedingungen daher: je ländlicher, desto besser. «In einer kleineren Ortschaft ist es normalerweise kein Problem, Trainingszeiten auf einem vorhandenen Fußballplatz zu bekommen», sagt Hochwartner. «Wenn ich aber für jede Einheit mit den Zielscheiben im Kofferraum ins Grüne fahren muss, dann erfordert das Hartnäckigkeit. Und Zeit.»

Auf die männlich dominierte Fischereitradition führt Hochwartner auch das bestehende Geschlechterungleichgewicht in den Casting-Gremien zurück. Der Frauenanteil liegt sowohl im Vorstand des österreichischen als auch des Weltverbands bei 20 Prozent. «Leider gibt es zu wenige qualifizierte Damen in unserer Sportart, die auch präsidiumsreif sind», sagt Hochwartner dazu. Was genau das bedeute, sei schwer zu sagen. Es habe wohl etwas mit mangelnder Erfahrung zu tun. Eine Argumentation, die das Internationale Olympische Komitee bislang nicht überzeugte: Alle Anträge auf Aufnahme von Casting wurden von diesem abgelehnt. Der Weltverband rief daher neben den Welt-, Europameisterschaften und der Weltcup-Serie die alle vier Jahre stattfindenden Casting World Games ins Leben.

Internationalität.

Die regelmäßigen Reisen zu Turnieren ins Ausland machen für Michaela Nemethova, die heute im Fünfkampf der Frauen antritt, seit jeher den Reiz des Casting-Sports aus. Die 25-jährige Slowakin stammt aus einer Fischerfamilie. «Eine Freundin meiner Schwester hat mit dem Sport begonnen und uns beide rekrutiert», sagt sie. «Ich war zu Beginn vor allem neugierig, weil ich nicht verstanden habe, worum es dabei eigentlich geht.» Kleinere Wettkämpfe, in denen es Süßigkeiten zu gewinnen gab, weckten ihren Ehrgeiz. Bald trainierte Nemethova auf einer Schulsportanlage zweimal wöchentlich vier Stunden lang. Mit 14 qualifizierte sie sich zum ersten Mal für die Weltmeisterschaft in der Erwachsenenklasse. «Die Jungen in meiner Nachbarschaft haben sich lange über mich lustig gemacht», sagt Nemethova. «Aber als ich dann angefangen habe, zu Weltcup-Turnieren in die USA und nach Japan zu reisen, sind sie eifersüchtig geworden.» In ihrer ehemaligen Angstdisziplin «Gewicht Ziel», in der eine schräg aufgestellte gelbe Scheibe aus verschiedenen Distanzen getroffen werden muss, hat Nemethova inzwischen WM-Medaillen vorzuweisen. «Das trainiere ich schließlich am meisten», sagt sie.

Vom 5. bis 9. September findet im schwedischen Ronneby die heurige Weltmeisterschaft statt. 20 Nationen werden erwartet. Für Österreich stehen insgesamt neun Startplätze zur Verfügung, von denen Hochwartner, wie er sagt, voraussichtlich sechs besetzen werde. Drei Frauen und drei Männer sollen mitfahren, unter ihnen Christian Zinner, der einen Weltmeistertitel in der Disziplin «Gewicht Weit» hält. Mit dem Casting-Verein der schweizerischen Gemeinde Gempen, den die Mutter und der Stiefvater gegründet haben, trainiere er normalerweise zweimal in der Woche. Für die letzten Wochen vor der WM aber hat sich Zinner tägliches Einzeltraining verordnet, das sogar Videoanalysen umfasst. Was für ihn weiterhin die größere Herausforderung darstelle: denjenigen Arbeitskollegen und neuen Bekannten zu erklären, was das nun für ein Sport sei, mit dem er den Großteil seiner Freizeit verbringe. «Ich rate allen, vorbeizukommen und es sich anzusehen», sagt Zinner. Wer sich darauf nicht einlasse, dem schicke er einen YouTube-Link.

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