Es war einmal eine Gemeinde, die agrarische Flächen zu einem Industriegebiet umwidmen wollte. Korrekter formuliert: Der Bürgermeister wollte es so. Nicht nur die Leute, die ihn gewählt hatten, waren zufrieden: An allen Ecken fehlte es der Gemeinde an Geld. Mittelamerikanische Aktivist_innen der Diaspora warten immer noch auf Subventionen für das Comeback des traditionellen aztekischen Hüft- und Hintern-Ballspiels, das tausende Jahre vor der Entwicklung des europäischen Schwalben-Fußballs gepflegt wurde. Das in der ganzen Region durch ein Selbstverwaltungsexperiment berühmt gewordene Laufhaus brauchte längst eine riesige Parkgarage, die den herbeiströmenden Männern diskrete Aufenthalte garantierten; eine entsprechende Garagen-Garantie für Freier war im Wahlkampf versprochen worden. Die Asphaltbahn des Eisstockschützenvereins wies Aufbrüche auf, die die Stöcke in alle Richtungen beförderten, bloß nicht in Richtung Taube. Ein Blitz hatte das Minarett für die muslimische Religionsgemeinde des Ortes in zwei Teile zerrissen, sodass die Moschee seit Jahren nicht mehr benützbar war. Das einzige kommunale Modellprojekt, das nicht unfinanzierbar, sondern sogar von ökonomischem Kollateralnutzen war, ist das über die Grenzen berühmt gewordene Leuchtkäfer-Wiederansiedlungsprojekt «Licht ins Dunkel tragen». Die Schwärme der Leuchtwürmchen ermöglichten dem Gemeinderat, sich als erste Gemeinde ohne nächtliche Verkehrsbeleuchtung zu präsentieren. Das Image des Fremdenverkehrsortes ist von Besucher_innen der Mitternachtsmette geprägt, die sich mit Sonnenbrillen vor den Blend-Insekten schützen.
Deswegen ist ja nach jeder Ortsausfahrt eine Supermarktanhäufung zu sehen
Angesichts des kommunalen Haushaltsnotstandes ergriff der Bürgermeister die Chance der Umwidmung von Grund und Boden, wie es fast sämtliche Bürgermeister_innen des Landes genau so gemacht hätten. Deswegen ist ja nach jeder Ortsausfahrt der Gemeinden eine Supermarktanhäufung zu sehen, und ebenso nach jeder Ausfahrt. Die riesigen, in Schuss gehaltenen Parkplätze in diesen Gewerbe- und Konsumgebieten stehen am Wochenende nahezu leer, doch dem nach der absoluten Ebene suchenden Stockschützenverein ist die Nutzung der Wüsten der Versiegelung verboten. Unsere Mustergemeinde, in der ein Bürgermeister wie unser Herr Otto Mustermann die Geschäfte führt, ist nicht Kitzbühel. Dort ist es unendlich profitabel, wenn ein Acker am Rande der Gemeinde von Grünland in Bauland umgewidmet wird. Das Resultat ist eine Wertsteigerung des Grund-und-Bodens von im Schnitt 16.000 Prozent. Aus der Sicht einer zapatistischen Bäuerin ist so eine alpin-ethnografische Besonderheit eher mit dem Gewehr zu lösen als mit der Forderung nach Bodenreform.
Selbst für unseren Bürgermeister (auch dieser Mann lebt nicht ohne Flinte, aber hat noch nie eine Revolution mit ihr gemacht, sondern Wilderer abgeschreckt und illegal einwandernde Braunbären zur Strecke gebracht) ist diese Gewinnspanne kaum nachvollziehbar. Die Mieten, die aus diesen Kitzbüheler Bodenpreisen entstehen, sind gerade für die Familien der gesamtplanetarischen Oligarchien leistbar. Also, es war einmal ein Bürgermeister, dessen Umwidmungen im Sinn eines gesundem Gemeindehaushalts, wie er meinte, nicht einen 16.000-fachen, aber immerhin einen normalen 600-fachen Profit brachten; die Grundsteuer als Form der Besteuerung dieser Wertexplosionen, die ohne Leistung zuwege gebracht wird, ist in Österreich ausgesprochen mickrig. Österreich hat dadurch in den letzten 20 Jahren soviel Ackerflächen verloren, wie das Gemeindegebiet von Mürzzuschlag groß ist. Achtung, es liegt ein konstruierter Fehler vor! Es wurde soviel Ackerfläche verloren, wie die Steiermark groß ist. Das klingt unglaublicher, ist aber wahr. Mit dem Verkauf von Boden lässt sich mehr Geld machen als mit der Ernte. Immer wichtiger wird eine Debatte zur Grund- und Bodenfrage – als Teil der Verfassungsfrage. Es ist nicht egal, ob in der Verfassung von der Unverletzlichkeit des Eigentums ausgegangen, sondern wie die österreichische Verfassung es formuliert, oder ob, wie in Deutschland die Rede ist, Eigentum verpflichtet.
Besser wäre, wenn die Gemeinde 100 Prozent der Fläche besäße
Es war einmal ein Bürgermeister. Prototypisch, wie ich ihn angelegt habe, redet er manchmal Ötztalerisch und manchmal fast Plattdeutsch. Es ist immer noch der vom Anfang meiner Geschichte. Er ist beschränkt handlungsfähig, denn das Vorhaben eines großen Autokonzerns, im Gemeindegebiet eine E-Autofabrik und eine Batteriefabrik zu errichten, ist ein paar Nummern zu groß für ihn. Das ist Sache der Landesregierung. Aber er kann seinen Beitrag leisten, um die Betriebsansiedlung zu unterstützen. Als zum Beispiel die erste Hälfte des 300 Hektar großen Waldgebiets, das der Konzern braucht, geschlägert war, entfachte diese Tat einen riesigen Informationsbedarf unter der Bevölkerung. Der Wald ist Landschaftsschutzgebiet. Alle bisherigen Bauarbeiten werden auf Basis einer Ausnahmeregelung durchgeführt. Die Büger_innen wollten sich, wie es ihr Recht ist, im Gemeindesaal versammeln. Hunderte wollten kommen, hören, ihre Meinung kundtun. Der Bürgermeister reservierte einen Raum, in dem coronabedingt 20 Menschen Platz nehmen durften. Diese Plätze waren bereits zwei Stunden vor Beginn der Versammlung besetzt. In diesem Fall geht es um eine Giga-Fabrik, die in jenem Staat gebaut wird, in dem – siehe oben – zu sozialen Werken verpflichtetes Eigentum Staatsräson ist. Was immer das bedeutet.
Es war einmal eine Bürgermeisterin. Sie war Schauspielerin, Sängerin, Tänzerin und Wirtin. Sie betont bei jeder Gelegenheit, dass es gut sei, wenn in einer Stadt 50 Prozent des Bodens in kommunalen Besitz sei, wie in Wien. Dass es aber besser wäre, wenn die Gemeinde bzw. die Allgemeinheit 100 Prozent der Fläche besäße. Sie schwört auf die Ideen des Hans Bernoulli. Der war 1911 – wieder dieses sonderbare Jahr! – Chefarchitekt der Deutschen Gartenstadtgesellschafft. Wie die Städte ihre Macht, die Zukunft zu gestalten, zurückgewinnen können, beschrieb Bernoulli ausführlich in seinen beiden Büchern Die organische Erneuerung unserer Städte (1942) und Die Stadt und ihr Boden (1947). Ist es möglich, lautete seine Frage, dass die gesamte Baumasse einer Stadt, auch soweit sie in privatem Eigentum steht, nach Ablauf ihrer normalen Lebensdauer, sich selbständig ohne Zwang, ohne Eingriffe in private Rechte, aus eigener Kraft erneuert? Der Architekt war für die Trennung von Bau und Boden. Das stellte er sich konkret so vor: Der Bau darf Privateigentum sein, der Boden soll von der Kommune dem Bauherrn für die Lebensdauer des Baus verpachtet werden. Dafür muss aller Boden in Gemeindeeigentum überführt werden. Die Gemeinde verkauft kein Land, das in ihrem Eigentum steht. Private bekommen aber ein Baurecht, das auf etwa 80 Jahre begrenzt ist. Niemand kann sagen, dass das eine revolutionäre Grund-und Bodenpolitik wäre.
Revolutionär, freilich nicht im Sinn einer privateigentumsfeindlichen Politik, ist der Ansatz unserer Bürgermeisterin, eine Stadtgesellschaft zu entwickeln, also Netzwerke digital oder analog kommunizierender Leute, die sich mit der Stadt identifizieren, und zwar so intensiv, dass die Grenze zwischen Alltagsleben und politischem Leben verschwimmt. Es war einmal ein französischer Arbeiter_innen-Führer. Der ließ seine Leser_innen eines Tages – man schrieb das Jahr 1911, ich kann wirklich nichts dafür – wissen, dass er als blutjunger Mensch an einem Winterabend eine Art sozialer Erschütterung erlebte. Er sei tief getroffen worden, als ihm auffiel, das tausende und abertausende Menschen einander begegneten, ohne jegliches Zeichen eines Grußes. Der Mann hieß Jean Jaures. Merkt euch diesen Namen, lest alles von ihm, über ihn!
Anders als Bürgermeister Nr. 1 hätte die Bürgermeisterin sofort die Sporthalle aufgesperrt, um niemanden aus Platzgründen aus der Versammlung zu schmeißen. Sie hätte den Versammelten erzählt, wie ihr Bürgermeisterkollege aus der isländischen Hauptstadt Reykjavik den Zusammenhalt der Hauptstädter_innen stärken wollte, den er als Voraussetzung für angewandten Anarchismus würdigte. Selbst im überschaubaren Reykjavvik, wo man auf den Straßen unter zehn Passant_innen mindestens zwei Bekannte trifft, erschreckt der hohe Grad von Distanz gegenüber anderen. Der Bürgermeister tat etwas, was noch nie ein Regierter von einem Stadtboss erwartete: Er führte den «Guten Tag»-Tag ein. Wie in einem die Stadt ergreifenden Spiel begrüßt man wildfremde Leute mit «Guten Tag» und spürt die sanfte Pflicht des unverhofft Wahrgenommenen, zurück zu grüßen. Alle Medien, digital oder analog, begleiten diese Kampagne. Sobald er anbricht, der «Guten Tag»-Tag, zaubert er ein Lächeln in die Antlitze der Entgegenkommenden.
Es war einmal eine Bürgermeisterin, die sich fragte, ob man nicht gleich einen neuen Gruß einführen sollte. Sie schlug die Begrüßung «Grund und Boden!» vor. Ein Statement des Inhalts, es sei Zeit, sich über diese beiden Kategorien Gedanken zu machen. In der Grußkultur manifestieren sich jede Menge Statements, neben dem beachtenswerten Understatement, dem Begrüßten gegenüber Diener sein zu wollen (Servus!). Es war einmal ein Bürgermeisterin. Sie erlebte nicht mehr, ob etwas blieb von dem Experiment, das sie angezettelt hatte. Es blieb viel. Mit den Jahren verkürzten die Leute den Gruß «Grund und Boden!», wie sie «Gott behüte dich» zu «pfiati» verkürzten, «grüß Gott» zu«Sgott» oder «einen guten Tag wünsch ich Ihnen» zu «Tag!». Eines Tages sagten die Leute, wenn sie sich trafen, einfach: GRUND! Es fragt sich, ob sie schon über ihn verfügen. Im Grunde genommen hätten sie sich den Grund längst nehmen müssen.
Am 29. Juli wird Robert Sommers Theaterstück In Grund und Boden uraufgeführt. Bausteine des interaktiven Dramas sind mehreren Essays von Robert Sommer entnommen, u. a. dem obigen.