Seit 25 Jahren immer wieder Neuauflagen
Wanderbücher entstehen nicht am Schreibtisch. Man muss viel unterwegs sein, um anderen Menschen Tipps zu geben, wo sie hingehen sollen. Zwei Wiener Autoren versuchen seit 25 Jahren, den Wienerwald auch erlesbar zu machen. Chris Haderer (Text & Fotos) war mit ihnen unterwegs.
«Wandern kann man zu jeder Jahreszeit», sagt Helmut Singer. Kann man, muss man aber nicht. Wer sich im Winter ärgert, wenn um sechs in der Früh der Gehsteig nicht ausgeschaufelt ist, wird mir zustimmen. Aber auch Helmut Singer kann man glauben, weil er in Sachen Wandern so etwas wie ein Experte ist. Gemeinsam mit dem Wiener Autor und Übersetzer Peter Hiess hat er das Buch Wandern im Wienerwald geschrieben. Oder besser: Die beiden Wanderer schreiben seit etwa 25 Jahren an ihrem Werk. So lange liegt die erste Auflage des Buches zurück, und da die Wege durch den Wienerwald oft verschlungene Pfade sind, die sich heimtückisch ändern, ist dann und wann eine neue Fassung vonnöten. Es ist eine Sammlung von «Insider»-Informationen über Wege, Sehenswürdigkeiten, Plätze, an denen man seine Leichen aus dem Keller vergraben kann, und – ganz wichtig – Gaststätten am Wegesrand. «Das Buch ist sozusagen unser Lebenswerk», sagt Helmut Singer, «das vom DuMont-Verlag jetzt zum Falter-Verlag gewandert ist.» Nebenbei haben Peter Hiess und Helmut Singer auch noch zehn(einhalb) Gebote verfasst, die angehenden Wanderbuchautor_innen als Leitfaden auf steinigen Wegen dienen sollen. «Man kann sich daran halten oder in die Hölle kommen, wie man will», sagt Peter Hiess, der die Gebote mit seinem Autorenkollegen im Rahmen von Vorträgen ins gläubige Volk streut. «Du sollst zu allen Jahreszeiten gehen», lautet das 10. Gebot: «Wenn man weiß, was man tut», fügt Hiess hinzu. «Deutsche Touristen sollten auf keinen Fall auf Sandalen und Stöckelschuhe verzichten.» Im Buch sind Gegenden, in denen die Natur die Wandernden mit schlammigen Stellen oder eisbedeckten Hängen zu Fall bringen will, extra hervorgehoben.
Man muss wandern (wollen).
Das erste Gebot stößt bereits tief ins Wesen des Wanderns vor. Wer eine Wanderung plant, muss das Umfeld ernst nehmen und sich eine Reihe von Fragen stellen, beginnend beim Proviant bis hin zu «Klopapier und Blasen-Pflaster», meint Peter Hiess. Eine unserer ersten gemeinsamen Wanderungen umreißt die Tragweite des Gebotes recht anschaulich. Wir hatten drei Tage geplant, für einen Marsch von Wien ins wunderbare Mariazell, je nach Route um die 120 Kilometer laut Google Maps. Falsch ist es beispielsweise, an einem solchen Wandertag zu verschlafen und die Route mit vier Stunden Verspätung und nach zwei Leberkäsesemmeln anzugehen. Bis zum Einbruch der Dunkelheit hatten wir es von Perchtoldsdorf bis in die Nähe von Baden geschafft und waren Kilometer vom ersten Etappenziel entfernt. Ein vorüberkommender Bauer brachte uns dann zum nächsten Bahnhof, und kurz vor Mitternacht waren wir wieder in Wien. Meine Freundin, die damit gerechnet hatte, mich drei Tage nicht zu sehen, hatte in der Zwischenzeit damit begonnen, Wohn- und Schlafzimmer neu zu streichen, aber das ist eine andere Geschichte. Peter Hiess hält das für eine gerechte Strafe, weil ich das erste Wandergebot nicht ernst genommen habe. Aber auch er und Helmut Singer mussten Lehrgeld bezahlen: Ein Kilo Würfelzucker gehört genauso wenig ins Wandergepäck wie die letzten drei Schmöker von Stephen King oder mehrere Badetücher. Obwohl: Bei den Badetüchern ist das letzte Wort noch nicht gefallen, denn wie Douglas Adams schon in seiner fünfbändigen Roman-Reihe Per Anhalter durch die Galaxis notierte, sollte man das Haus aus Sicherheitsgründen niemals ohne Badetuch verlassen.
Du sollst wissen, wovon du schreibst.
Das vierte Gebot setzt einschlägige Kenntnis der Gegend voraus, die durchwandert wird. «Man muss die Region eingrenzen – in unserem Fall auf den Wienerwald, denn der ist ohnehin größer, als man denkt», sagt Peter Hiess. «Und man braucht auch Hintergrundwissen, wie beispielsweise die Gewässer- oder die Gesteinsstruktur.» Der Wienerwald, der mit einer Fläche von knapp 1.250 Quadratkilometern so etwas wie die «grüne Lunge» von Wien darstellt, gliedert sich nämlich in ein Kalk- und ein Sandsteingebiet. Das Areal wird sehr geschätzt, weil es landschaftlich abwechslungsreich ist – und auch weil es zu 90 Prozent nicht in Wien liegt, sondern in Niederösterreich. Dort trifft man oft auch auf einen der «natürlichen Feinde des Wanderers: die Mountain-Biker». Diese Spezies zeichne sich «durch einen recht offensiven Fahrstil aus, gerne auch auf Wegen, auf denen keine Fahrräder erlaubt sind», sagt Hiess. Kurz: Wie Reiter, die lieber auf den schöneren Wanderwegen unterwegs sind als auf den ausgetretenen Pferdetracks, sind Mountain-Biker_innen eine untragbare Störung des bewaldeten Idylls; festgehalten in Gebot Nummer acht: «Du sollst viel Geduld haben (außer mit Mountain-Bikern).» Denn jeder Wald verändert sich. Nicht nur weil er wächst, sondern auch, weil er abgeholzt wird, was oft Probleme mit der Navigation nach sich zieht. «Wir haben früh festgestellt, dass Wegangaben wie links am Birkenwald vorbei nicht immer funktionieren – beispielsweise, wenn vor einer Woche ein Harvester da war.» Dann ist nämlich möglicherweise auch der Wald nicht mehr da. Helmut Singer hat ein Beispiel zur Hand: «Dort, wo einmal ein schöner, breiter Waldweg durch den Naturpark Eichenhain zur Windischhütte hinaufführte, ist nur mehr eine verwüstete, breite und schutzlos dem Sonnenlicht ausgesetzte Forststraße geblieben. An beiden Seiten türmen sich die Holzstöße, überall findet man Spuren des Harvesters, der hier gnadenlos gewütet hat.» Für die Beschreibung einer Route gilt es daher markante Stellen zu finden, die selbst einen Atomkrieg überdauern. «Böse Zeitgenossen verändern auch immer wieder die ausgeschilderten Markierungen der Wanderwege», weiß Helmut Singer. «Noch dazu sind Holzfäller dafür bekannt, dass sie am liebsten die Bäume an Wegkreuzungen umschneiden, wo eine entscheidende Markierung angebracht ist.» Und auch die Schutzhäuser und Hütten, die ein wesentliches infrastrukturelles Detail jeder Route sind, ändern ohne Vorwarnung ihre Öffnungszeiten. «Sobald ein Wirt sieht, dass wir vorbeikommen und uns die Öffnungszeiten notieren, wird sofort umgeplant.» Beispiele für solche On/Off-Schenken sind etwa die Seewiese (auch Stockerhütte genannt), «die Laaber Dorfschenke, der Schusternazl oder die Wiener Hütte». Im Buch sind insgesamt 30 Routen enthalten, die neben Informationen über Historie, Weg und Gastronomie auch Hinweise zur Anfahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln beinhalten. «Das war ein wichtiger Punkt», sagt Peter Hiess – und gleichzeitig auch das einzige Zugeständnis an die Techno-Welt. GPS-Koordinaten und Ähnliches wird man im Buch nicht finden. «Wir sind klassische Wanderer mit Buch und Landkarte. Mobiltelefone funktionieren im Wald meistens sowieso nicht, oder es geht einem der Akku aus, wenn die nächste Steckdose zwanzig Kilometer entfernt ist.» Die Längen der einzelnen Routen haben die Autoren erst mit einem Schrittzähler bestimmt, dann wurden sie zwecks exakter Neuvermessung von Helmut Singer mühsam abgefahren – aber «nicht mit einem Mountain-Bike, sondern mit einem Stadtfahrrad», gibt er zu Protokoll.
Retter des Wienerwalds.
«Der Wienerwald ist ein lebendiges Gebiet», sagt Peter Hiess. «Und manchmal fast schon etwas zu lebendig, vor allem, wenn man ein Wanderbuch schreiben will.» Eines der Hauptprobleme, an denen der Wienerwald krankt, sind Spekulation und die Abholzung ganzer Waldstriche. «Vielleicht sollten wir uns auch endlich gegen die irrwitzige Abholzung wehren, die wir bei der Arbeit an unserem Wanderbuch so oft feststellen mussten – und zwar, bevor es zu spät ist.» Einer hat sich schon einmal gegen den Ausverkauf des Wienerwalds gewehrt – Josef Schöffel. Nachdem das Kaiserreich den Krieg gegen die Preußen verloren hatte und 1867 zur Doppelmonarchie wurde, sollte 1870 der Wienerwald zwecks Geldbeschaffung veräußert werden. «Josef Schöffel, der Retter des Wienerwalds, bewahrte seinen geliebten Wald davor, gewissenlosen Spekulanten zum Opfer zu fallen», erklärt Peter Hiess. Schöffel deckte Skandale auf, leistete Widerstand und erwirkte 1872 ein Verbot der Schlägerungen. «Mehr als 100 Wienerwald-Gemeinden ernannten Schöffel zum Ehrenbürger – und einige setzten ihm sogar Denkmäler.» Das bekannteste ist ein schlichter Sandsteinobelisk auf dem Schöffelstein im ehemaligen Purkersdorfer Gemeindewald. «Ich wünsche mir nur», sagte Schöffel ungegendered, «dass, wenn der Wienerwald, was nicht unmöglich ist, wieder einmal von Spekulanten bedroht werden sollte, sich zur rechten Zeit ein Mann finde, der denselben mit Erfolg verteidigt.» Auch diese Geschichte, die kaum mehr bekannt ist, haben Peter Hiess und Helmut Singer in ihrem Buch festgehalten. Was die Autoren direkt zum zehneinhalbten Gebot führt: «Du sollst Wald und Wiese auch nach dem Buch noch genießen können.» Das gilt für beide Seiten – die Leser_innen und die Autoren: «Entspanntes Wandern wäre ideal – aber wenn man dauernd aufpassen muss, ob alles so ist wie im Buchtext, ob sich was verändert hat, ob das jeder versteht und finden kann, ist man zwangsweise oft unentspannt, dann wirds zur Pflicht, die man auch bei anderen Wanderungen nur schwer loswird.» Und der Leser oder die Leserin will auch nicht auf dem Weg nach Mariazell in Klosterneuburg landen – nur weil ein Harvester da war.
Peter Hiess und Helmut Singer:
Wandern im Wienerwald. Die 30 schönsten Wanderungen
in und um Wien
Falter-Verlag 2017, 256 Seiten, 22,90 Euro
Blog der Autoren:
wandernimwienerwald.com