Die Gugginger Art Brut ist weltbekannt, weniger bekannt ist, wie sie entsteht.
Die Leute hören Gugging und haben schon eine Meinung, ist Florian Reese, bis vor kurzem Leiter des offenen Ateliers im Art / Brut Center überzeugt. Das 1981 von Leo Navratil gegründete Künstlerhaus (damals noch Zentrum für Kunst-Psychotherapie genannt), das mittlerweile ein stattliches Museum in seiner Nähe hat, ist ein gefundenes Fressen für alle, die etwas zum Thema Kunst und Psychiatrie zu sagen haben, meint Reese. Ausgangspunkt für neue Diskussionen könnte die 2006 in Holland erschienene Dissertation der Kulturanthropologin Alexandra Schüssler sein. Ist ihr Forschungsprojekt Wahnsinn auf Papier und Leinwand. Sublimation und Exploitation im Haus der Künstler in Gugging nur eine von vielen schlecht informierten Kritiken, wie Reeses Aussagen suggerieren, oder hat man in Gugging zu Recht Angst vor der Drucklegung ihrer wissenschaftlichen Arbeit? Eine Präsentation ihrer Ergebnisse Ende April im Wiener Institut für Wissenschaft und Kunst ließ die Wogen im Publikum jedenfalls hochgehen.
Alexandra Schüssler, Konservatorin des Musée d’Ethnographie in Genf, beginnt ihre Auseinandersetzung mit den Werken der Gugginger Künstler im Jahr 1999. Die junge Kulturanthropologin kommt als Feldforscherin ins Haus der Künstler, wo sie zwei Fragen klären möchte: Was fasziniert uns an den Bildern der Gugginger, und in welchem Kontext entstehen sie? Schüssler lebt für mehrere Monate mit den Künstlern zusammen, spricht mit Sammler/innen und begleitet die täglichen Führungen durchs Haus. Gemeinsam mit den Tourist/innen dreht sie ihre Runden durch die Schlafzimmer der Künstler und notiert, was gesagt wird: Die Künstler arbeiten, wann sie wollen, wie sie wollen und was sie wollen. Es gibt keine gegenseitige Beeinflussung. Die Kunstwerke sind authentisch, pur, rein. Schüssler glaubt die Art Brut Story zumindest anfänglich. Je länger sie bleibt, desto mehr Ungereimtheiten entdeckt sie, immer weiter scheint sich die Kluft zwischen dem, was nach außen transportiert wird, und der Realität im Haus der Künstler aufzutun. Meine Initialerfahrung war, als ich miterlebte, wie ein Künstler mit einem Schoko-Bonbon zum Malen gegängelt wurde, erzählt Schüssler im Rückblick.
Art Brut ein zeitloses Konzept?
Wer die Kritik der Kulturanthropologin verstehen will, muss erst einen Blick zurück in die 40er Jahre des 20. Jahrhunderts werfen, dem Beginn der Erfolgsgeschichte der Art Brut. 1945 kam der französische Künstler und Weinhändler Jean Dubuffet auf einer Schweizreise erstmals in Kontakt mit Kunstwerken psychisch kranker Personen in psychiatrischen Anstalten. An Orten wie der Klinik Waldau bei Bern traf er mit Menschen zusammen, die außergewöhnliche Werke produzierten, ohne dabei an den Kunstmarkt zu denken. Ganz auf sich konzentriert schufen ein Adolf Wölfi oder eine Aloïse Corbaz fantastische Bildwelten, die von großer Gefühlsintensität geprägt waren. Dubuffet hatte schnell einen Namen für die unangepassten Werke gesellschaftlicher Außenseiter/innen: Art Brut zu Deutsch rohe Kunst. Als Artbrutist/innen gelten bis heute all jene Künstler/innen, die außerhalb des akademischen Kunstbetriebes, der Kunstgeschichte und des Kunstmarktes stilistisch eigenständige Werke produzieren. Was wirklich brutig ist, entscheiden einige wenige Fachleute.
Das Gugginger Künstlerhaus im Kontext von Dubuffets antikultureller Haltung zu präsentieren, wäre purer Anachronismus, meint Schüssler. Johann Feilacher (Direktor des Art / Brut Centers, Leiter des Künstlerhauses, Anm.) verfolgt eine gezielte Strategie, von dem am Kunstmarkt erworbenen Status der Art Brut zu profitieren, wenn er Dubuffet eklektizistisch zitiert, indem er aus dessen Antiprogramm nur anführt, was für ihn nützlich ist. Das ursprünglich subversiv gedachte Art-Brut-Konzept wäre schon längst vom Kunstbetrieb absorbiert worden. In der Tat hängen die Gugginger heute Seite an Seite mit so genannter Kulturkunst in vielen großen Museen der Welt, nicht zuletzt in ihrem eigenen dem Art / Brut Center, das Anfang 2009 in die Organisation der NÖ Kulturwirtschaft GmbH bzw. der NÖ Museum Betriebs GmbH eingegliedert wurde. Man ist Teil des anerkannten Kunstmarktes und tut doch so, als wäre man etwas anderes bringt Schüssler ihre Kritik auf den Punkt. Dubuffets Art-Brut-Begriff ist in diesem Zusammenhang eine Lüge schwere Anschuldigungen, die man in Gugging freilich anders sieht. Die Aussagen zur Art Brut sind einer lapidaren Führung Ninas (Nina Katschnig ist Geschäftsführerin der Galerie im Art / Brut Center, Anm.) entnommen. Das alles wurde aus dem Zusammenhang gerissen, verteidigt Reese den Betrieb und seine Kollegin. Er zeigt sich dennoch selbstkritisch; man wäre durchaus bestrebt, den Art-Brut-Begriff in Zukunft genauer zu betrachten eine Tatsache, die fraglich erscheint angesichts aktueller Presseaussendungen zur Ausstellung gugging.! in Wien. Hier spricht man nach wie vor recht phrasenhaft von Dubuffet und der höchst persönlichen und unangepassten Formensprache der Künstler.
Bilder des berührbaren Wahnsinns
Gerade die gesellschaftliche Unangepasstheit ist es, die Schüssler mit ihrer Forschung dezidiert in Abrede stellt. Ihre Beschreibung eines durchorganisierten Produktionsprozesses steht in krassem Gegensatz zum romantisierenden Bild des kulturellen Außenseiter-Künstlers, das durch Führungen und Ausstellungskataloge vermittelt wird. Was heute aus Gugging kommt, sind Abbilder des berührbaren, schönen, bunten Wahnsinns. Unangepasste Werke verlassen das Künstlerhaus nicht, meint die Kulturanthropologin und zeigt als Beweis einige der schubladisierten Bilder in ihrem Vortrag. In der Tat ist das, was hier zu sehen ist, anders. Die zensurierten Werke zeigen keine Tiere, landwirtschaftlichen Maschinen, Kopffüßler oder was man sonst aus Gugging gewohnt ist: Hier geht es um sexuelle Phantasien in vielfacher Ausgestaltung. Was Schüssler Zensur nennt, heißt in Gugging Personenschutz. Weil sie das nicht selber machen können, müssen wir es tun begründet Reese die Ausscheidung gewisser Werke. Tatsächlich könnten allzu freizügige Bilder eine Gefahr für die Künstler darstellen, die Vergangenheit kennt genügend traurige Beispiele der fatalen Verbindung von krank und deviant. Wie weit der Personenschutz jedoch im individuellen Fall gehen darf und wo die Grenzen zur Normierung überschritten werden, bleibt durchaus diskussionswürdig.
Ausführlich geht Schüssler schließlich auf die konkreten Schattenseiten für die Künstler-Patienten in der Kunst-Fabrik Gugging ein. Schlagworte wie Kontrolle, Arbeitszwang und Vertuschen unbalancierter Machtverhältnisse fallen. Die emotionale (und seit der Übernahme durch Feilacher auch finanzielle) Abhängigkeit vieler Künstler würde hier gezielt ausgenutzt. Als Beispiel zitiert sie Katschnigs Umgang mit faulen Patienten. Hey, was ist denn los, magst du nicht wieder einmal? Sonst kriegst du kein Geld mehr und hast keine Zigaretten. Wer sich fragt, warum gerade Gugging immer wieder ins Schussfeld der Kritiker/innen gerät, findet hier vielleicht einen Ansatzpunkt. Während in anderen psychiatrischen Heimen, wo psychisch beeinträchtigte Personen in Ateliers künstlerisch tätig sind, der sozialtherapeutische Aspekt immer eine Rolle spielt, setzt Gugging nur auf Kunst. Gängige Therapieziele wie Freude am künstlerischen Miteinander oder Förderung des Forschungsdranges würden dafür geopfert, meint Schüssler. Feilachers Künstler-Patienten werden anders glücklich (gemacht): Sie (die Künstler, Anm.) können endlich das tun, was alle Menschen selbstverständlich tun: sich Bekleidung selber kaufen, ins Kaffeehaus gehen, einen Fernseher oder eine Stereoanlage erwerben oder auf Urlaub fahren, beschreibt er das für seine Schützlinge heilsame Ankommen in der kapitalistischen Leistungs- und Konsumgesellschaft. Der aus der Künstlerexistenz resultierende Stress wird dabei nicht erwähnt. Wer Schüsslers Arbeit gelesen hat, muss ernsthaft daran zweifeln, ob die Künstler wirklich von einem Beruf, inklusive aller gewöhnlichen steuerlichen Verpflichtungen (Reese) profitieren. Wie und auf wen wirken Prestige und Geld eigentlich therapeutisch?, beendet Schüssler ihre Ausführungen.
Unbequeme Kritik
Die Frage der Kulturanthropologin bleibt nicht lange ohne Antwort. Der im Anschluss an den Vortrag stattfindenden Diskussion fehlt es nicht an Schärfe und Emotionalität. Einige Aussagen Florian Reeses machen deutlich, dass man sich die am Kunstmarkt hart erkämpfte Position nicht von der ehemaligen Praktikantin kaputt machen lassen will. Wenn sich jemand in einem Sandkasten eine Sandburg gebaut hat, darf dann jeder hineinkommen und sie verhunzen?, verleiht er seiner Entrüstung Ausdruck. Schüssler hätte mit ihrem polemischen und emotionalen Stil jede Chance auf fundierte Kritik vertan ein hartes Urteil über eine unbequeme Kritikerin? Schüsslers Thesen mögen teilweise polemisch formuliert sein, unglaubwürdig sind sie deshalb nicht. Weitere Diskussionen wären durchaus wünschenswert.