Gut aufgehobenvorstadt

Über eine Branche fernab von Digitalisierung und Automatisierung

Ein Klavier ist schwer und fragil, unhandlich und wertvoll: Für den Transport braucht es Spezialisten. Männer mit Muskelkraft und Feingefühl. Wenzel Müller (Text und Fotos) über eine der letzten Männerdomänen.

Klavier ist nicht gleich Klavier. Da gibt es das Piano, den Stutzflügel und den Konzertflügel. Die Maße sind jeweils verschieden, ebenso das Gewicht. Das fängt bei 200 Kilo an und geht bis 500 Kilo, je nach Verarbeitung und Fabrikat. Michael Klemm kennt sich da bestens aus. Nein, er ist kein Pianist, aber gewissermaßen auch vom Fach: In Wien leitet er ein auf Klaviertransporte spezialisiertes Unternehmen.

Manchmal packt er selbst noch mit an. Doch das kommt eher selten vor. Denn inzwischen ist er über 60, und die Knie tun ihm weh. «Vielleicht würden sie mir auch weh tun, wenn ich mein Leben lang hinter dem Schreibtisch gesessen hätte.» Hat er aber nicht. Bis auf eine kurze Unterbrechung war er immer im Transportgeschäft tätig.

Sie kommen, sehen und heben es einmal kurz in die Höhe. Immer das gleiche Prozedere. Bei einem neuen Kunden prüfen Klemms Mitarbeiter immer als Erstes, wie schwer das Klavier ist, welche Arbeit sie also erwartet. Schwerarbeit wird es in jedem Fall sein, doch 50 Kilo mehr oder weniger, das spürt man. «Ist ja ein Baby, ein Spielzeug», freut sich Kristof Tomczyk. Das Klavier, das er an diesem Morgen zusammen mit seinem Kollegen Gerhard Kary abholt, wiegt «nur» 200 Kilo, das sagt ihm sein Gefühl. Es ist ein altes, englisches Fabrikat und muss in eine andere Wohnung geschafft werden.

Kristof Tomczyk ist Mitte 30, Gerhard Kary fünfzig. Beide machen einen kräftigen Eindruck, wie man das bei Klaviertransporteuren auch nicht anders erwartet. Doch wahre Kraftprotze, mit schwellenden Armen und einem Oberkörper, breit wie ein Kasten, das sind sie auch nicht. Bei Gerhard Kary schwillt eher der Bauch, und das kommt definitiv nicht von der Arbeit.

Die beiden Transporteure wickeln das Klavier mit Plastikfolie ein. Kein Kratzer soll drankommen. Und welche schon da sind, werden genau vermerkt, um späteren Reklamationen zuvorzukommen.

Muskelkraft und Feingefühl.

Viel wird derzeit über die Digitalisierung und Automatisierung der Arbeitswelt diskutiert, darüber, dass etliche Berufe verschwinden werden – ein Thema, das die Transportbranche kaum berührt. Denn hier zählen keine Algorithmen, hier zählt Muskelkraft, wie vor 100 oder 200 Jahren. Und nicht nur Muskelkraft, sondern auch Feingefühl, handelt es sich beim Klavier doch um ein spezielles Transportgut: Schwer ist es und zugleich fragil, unhandlich und wertvoll. Eine Sache für Spezialisten, nicht für einfache Zusteller. In Wien gibt es denn auch gerade einmal zwei, drei Unternehmen, die diesen Dienst anbieten. Eine überschaubare Branche und eine der letzten Männerdomänen. Klemm spricht von einer «kleinen Familie», wo jeder jeden kennt.

Kristof Tomczyk trägt, genauso wie sein Kollege, Arbeitsschuhe mit Stahlkappen. Dazu einen Kapuzenpulli. Er kommt aus Polen, wo er als Installateur gearbeitet hat. Warum er diesen Beruf nicht weiter ausübt? «Weil ich diesen Beruf nie gelernt habe – in Polen war das kein Problem, doch hier geht nichts ohne Zeugnis.» Gerhard Kary, gebürtiger Kärntner, ist Maschinenschlosser. Er ist in die Transportbranche gewechselt, weil es «keinen schöneren Beruf» gibt. Denn die Arbeit bestehe ja nicht nur aus Schleppen. Man sei ständig unterwegs und lerne jeden Tag neue Leute kennen. Da werde einem nicht so schnell langweilig.

«Hopp»: Auf dieses Zeichen hin erheben sich die beiden Transporteure gleichzeitig. Um ihre Schultern haben sie einen Tragegurt gebunden, mit dem sie das Klavier in die Höhe heben – diesmal nur kurz, denn im nächsten Moment setzen sie es auf einem daneben bereit gestellten Rollwagen ab. So sieht fortgeschrittene Hebetechnik aus: Die Kraft kommt aus den Beinen, der Rücken wird beim Aufrichten gerade gehalten. Mit dem Klavier auf dem Wagen geht es durch die Wohnung, hinaus in das Stiegenhaus.

Klaviertransport ist Teamarbeit. Eine Waschmaschine, auch nicht gerade leicht, kann eine Person nötigenfalls auch alleine mit einer sogenannten Rodel Stufe für Stufe hinaufbefördern. Anders bei einem Klavier. Da ist eine zweite Person unumgänglich, manchmal auch eine dritte oder vierte, dann nämlich, wenn ein Flügel zu transportieren ist.

Einer lenkt das Fahrzeug, der andere kümmert sich um die Arbeitsutensilien. Schon am Morgen, vor Fahrtantritt, hat der zu prüfen: Sind auch genug Transportdecken im Wagen? Reicht die Folie für den ganzen Tag? Sind die Gurte noch in Ordnung, oder weisen sie bereits erste Risse auf und müssen ausgewechselt werden? Die Arbeit im Team ist genau aufgeteilt.

Zurück in die Neubaugasse.

Mit dem Gewicht von 200 Kilo auf ihren Schultern gehen Kristof Tomczyk und Gerhard Kary die Stufen hinab. Tomczyk vorneweg, er ist der «Hutgeher», und Kary hintennach, er ist der «Spitzgeher». Diese beiden Fachausdrücke leiten sich vom Flügel her, genauer, von dessen beiden Enden: Das runde wird «Spitz» genannt, das gegenüberliegende, mit der Tastatur, «Hut».

Der «Hutgeher» bewegt sich rückwärts und hat die Balance zu halten. Der «Spitzgeher» hat seine Hände frei und kann sich gegebenenfalls am Geländer festhalten.

Tomczyk ist seit fünf Jahren im Transportgeschäft, Kary seit neun Jahren. In jeder anderen Branche ist das eine kurze Zeit, hier aber eine lange. Die meisten Klaviertransporteure suchen sich nach spätestens drei, vier Jahren eine neue, eine leichtere Arbeit. Tomczyk und Kary gehören also zu den Routiniers. Und also solche finden sie beim Tragen des Klaviers sofort in den gleichen Rhythmus.

In den einzelnen Stockwerken, auf den ebenen Flächen, stellen sie das Klavier jeweils auf den Rollwagen ab und schieben es weiter. Das sind willkommene Verschnaufpausen für sie.

Ausreichend Platz für ein Klavier würde auch ein Bus bieten, doch der Chef hat sich für einen Klein-Lkw entschieden, weil der über eine Hebebühne verfügt. Mit der Kraft der Hydraulik lässt sich der Niveauunterschied zwischen Straße und Fahrzeug leicht bewältigen.

Im Inneren des Laderaums bindet Kristof Tomczyk das Klavier, geschützt mit Transportdecken, gut an der Seitenwand fest, damit es bei einer Bremsung nicht ins Rollen gerät. Natürlich: Der Transport ist versichert.

Geschafft.

Jedenfalls der erste Teil der Arbeit. Die beiden Transporteure nehmen in der Fahrerkabine Platz und zünden sich erst einmal eine Zigarette an. Im Radio läuft Ö3. Tomczyk fährt den Wagen, Kary ist Beifahrer. Nur kurz wird ihre Pause sein, denn bis zur anderen Wohnung ist es nicht weit, bloß ein paar Straßen weiter. An einem Fußgängerübergang stehen zwei Frauen. «Ah, unsere beiden neuen Kolleginnen», witzelt Kary. «Beim Bundesheer gibt es doch auch Frauen, warum nicht bei uns?» Lachen.

Manchmal geht ein Transport auch in ein Bundesland. Das, sagt Kary, ist dann immer ein bisschen wie in Urlaub fahren. Raus aus der Stadt, auf die Autobahn.

Bloß erster Stock. Außerdem gebe es in dem anderen Haus einen Lift, mit dem das Klavier hinaufbefördert werden könne. Das sagte die Kundin bei der Auftragserteilung. Hier, vor Ort, erkennt Tomczyks geübtes Auge allerdings sofort: Die Lifttür ist zu klein. Zwar handelt es sich nur um zwei, drei Zentimeter, doch die fehlen eben! Die Kundin mag das nicht glauben und holt einen Zollstock, um nachzumessen. Tatsächlich, stellt sie fest, das Klavier passt nicht hinein.

Für unsere Transporteure heißt das: also doch schleppen. Und für die Kundin: Der Transport wird teurer kommen als ausgemacht. Denn zum Grundpreis, der sich aus Wegstrecke sowie Art und Wert des Klaviers zusammensetzt, kommt ein Aufpreis von 15 Euro pro Stock hinzu. Hier geht es in Wirklichkeit auch nicht in den ersten, sondern in den dritten Stock, weil Hochparterre und Mezzanin in dem Altbau dazukommen.

Das Stiegenhaus: der natürliche Feind des Transportarbeiters. In dem Altbau sind es die typischen Rundtreppen, die ihm das Leben schwer machen, denn ihre Auftrittsfläche variiert – eine notorische Stolperfalle.

Vorteil des Altbaus aus Transportarbeitersicht: Hier gibt es ausreichend Platz – im Unterschied zu so mancher Maisonette. Da, sagt Michael Klemm, sind sie auch schon im wahrsten Sinne stecken geblieben. Zu eng das Stiegenhaus. Kein Durchkommen. Also mit dem Klavier wieder zurück.

Schwitzende Routiniers.

Obwohl unsere beiden Transporteure es an diesem Morgen bloß mit einem «Baby» zu tun haben, kommen sie ordentlich ins Schwitzen. Drei Stockwerke, das ist selbst für Routiniers eine Herausforderung. Wollte man zusammenzählen, was Tomczyk und Kary im Laufe der Jahre schon geschleppt haben, man käme auf mehrere Tonnen. Beschwerden? Nein, die hätten sie nicht, außer, dass sie jeden Abend todmüde ins Bett fielen.

Auf den letzten Metern wird ihr Schnaufen immer lauter. Dann ist es so weit: Kristof Tomczyk und Gerhard Kary kommen oben an. Es ist jedes Mal wieder ein kleines Erfolgserlebnis, vergleichbar mit dem, das Bergsteiger_innen empfinden, wenn sie den Gipfel erreichen.

Wasser und Trinkgeld.

Das Klavier kommt an seinen neuen Platz und wird aus der Folie wieder ausgepackt. Ein paar Klavieranschläge zum Test, alles funktioniert. Die Kundin ist zufrieden. Für die Transporteure gibt es Wasser – und Trinkgeld. Reichlich Trinkgeld. Als Dankeschön für die Plackerei. Man sieht der Kundin regelrecht die Erleichterung an. Endlich ist die Sache erledigt. Kristof Tomczyk und Gerhard Kary wünschen ihr, mit leichtem Schmunzeln, «viel Glück mit den Nachbarn» und verabschieden sich. Für die beiden Transporteure geht die Arbeit weiter. Auf zum nächsten Kunden. Fünf Klaviere werden sie an diesem Tag noch zu schleppen haben, das ist Durchschnitt.