«Gut für die Kinder»vorstadt

Lokalmatador Nr. 347

Razmik A. Gevondyan verkauft den Augustin

und Märchen-Bücher, die er selbst verfasst hat.

Von Uwe Mauch (Text) und Mario Lang (Foto)

Es war einmal. Mit diesen Worten beginnen auch im Armenischen und im Russischen die Märchen. Es war also einmal ein Augustin-Verkäufer, der erzählte seiner Enkeltochter selbst ausgedachte Märchen. Es war einmal und ist noch immer. Seine Märchen gibt es vor der Filiale des Hofer-Markts in der Kaiserstraße. Dort steht oder sitzt Razmik A. Gevondyan am Vormittag, um die Kundschaft mit den neuen Ausgaben der Wiener Boulevardzeitung zu versorgen. Und mit seinen Märchen, die zuletzt in Buchform erschienen sind.

Die Menschen mögen den alten Mann, der nicht laut werden muss, um auf sich und seine Druckprodukte aufmerksam zu machen. Und es ist erfreulich, dass ihn auch jene gewähren lassen, die im Markt drinnen beschäftigt sind.

Ein Märchen, das das Leben schrieb: Eines Tages sprach der Augustin-Verkäufer in Wien eine gute Fee an, und die erklärte sich spontan bereit, seine Märchen vom Russischen ins Deutsche zu übersetzen. Darüber hinaus fand sie für ihn andere gute Feen und hilfsbereite Freunde, die unentgeltlich Produktion und Herausgabe von zwei Märchen-Büchern möglich machten.

Siebenblatt, Surja und Perun. So heißt das zweite Buch. Der alte Märchenerzähler kommt sechs Tage pro Woche mit der U6 von Floridsdorf in die Kaiserstraße. Doch eigentlich kommt er aus der anderen Richtung. Aus südöstlicher Richtung. Er wurde 1935 in Baku geboren, als Sohn eines armenischstämmigen Ehepaars. Sein Vater war Physik- und Mathematik-Lehrer, seine Mutter eine Hausfrau, die insgesamt zehn Kinder zur Welt brachte.

«Fünf von uns sind früh verstorben», erzählt Herr Gevondyan. Es war die Zeit des großen Hungers in der damaligen Sowjetunion. Und die Zeit des großen «Vaterländischen Kriegs», wie man im Russischen den Zweiten Weltkrieg nennt. Seine ältere Schwester ist vor dem Krieg gestorben, drei Brüder während des Kriegs, ein weiterer Bruder nach dem Krieg. Er selbst, Zweitältester und ältester Überlebender, ist während des Kriegs bei den Großeltern aufgewachsen. Nachdem man seinen Vater an die Front in den Kaukasus befohlen hatte.

«Opa Ovanes hat mir öfters Märchen erzählt», erinnert sich der alte Mann mit ruhiger Stimme. «Da war ich neun, zehn Jahre alt.» Die Märchen sollten ihn nachhaltig prägen. An der Juridischen Fakultät in Jerewan hat Razmik A. Gevondyan Rechtwissenschaften studiert. Gleichzeitig hat er in der Fabrik gearbeitet, ehe er eine schöne Karriere als Polizeijurist und Verfassungsexperte beginnen konnte.

Zwanzig Jahre hat er für das Innenministerium gearbeitet. Ein sozialer Aufstieg – ganz ohne Zweifel: «Dreihundert Rubel waren ein ordentliches Gehalt, ich konnte mir auch einen Wagen leisten.» Gesundheitliche Probleme sollten ihn jedoch später bremsen: «Nach einer Nierenoperation hat man mich 1982 frühzeitig in den Ruhestand geschickt, und nach dem Zerfall der Sowjetunion bin ich mit meiner Frau in die russische Stadt Tambow übersiedelt.» 15 Jahre später, 2005, folgte das Ehepaar der Tochter nach Wien.

Für die Tochter seiner Tochter, die Diana heißt, hat er sich eigene Märchen ausgedacht. 165 Kurzgeschichten hat er bisher aufgeschrieben. In einer gehen sein Großvater Ovanes (armenisch für Ivan bzw. Hans) und er mit einem Esel zum Holzklauben in den Wald. Wo sie einem hungrigen Bären in die Quere kommen. Der Großvater gebietet seinem Enkerl, so schnell wie möglich davonzulaufen, er selbst macht dann kehrt, um sich in Verhandlungen mit dem hungrigen Waldbewohner zu begeben. Am Ende geht natürlich alles gut aus. «Was hast du ihm denn gesagt?» Auf die bange Frage des jungen Razmik antwortet der Großvater: «Ich habe ihm gesagt, dass wir nur trockenes Holz sammeln, nichts Essbares.»

Moral dieser Mär: Furchtlose Ehrlichkeit währt am längsten, zumindest in den Märchen des alten Armeniers. «Egal welches wilde Tier du triffst, wenn du ihm friedlich begegnest, wird es dir nichts tun», heißt es am Ende des Märchens mit dem schönen Titel «Respektvolle Unterhaltung».

Respektvoll sind auch die Unterhaltungen mit seinen Kunden in der Kaiserstraße. «Sie erkundigen sich immer, wie es mir geht, ob alles in Ordnung ist», erklärt der Jurist mit den Augustin-Zeitungen in der Rechten und den Märchen-Büchern in der Linken.

«Märchen sind gut für die Kinder», sagt der Erzähler dann. «Weil es in den Märchen das Gute gibt, die Liebe zu den Eltern, auch Werte wie Gerechtigkeit und fairen Umgang mit anderen Menschen.» Und was sagt seine Enkeltochter Diana dazu, dass ihr Großvater Bücher schreibt? «Na, sie freut sich mit mir. Und sie hat auch schon angekündigt, dass sie einmal ihren Kindern und Enkelkindern daraus vorlesen wird.»

Und wenn er nicht gestorben ist, dann steht Razmik A. Gevondyan auch heute vor dem Hofer-Markt in der Kaiserstraße.

PS: Dass dieses Porträt erstellt werden konnte, ist der guten Fee Elisabeth Namdar zu verdanken, die zwischen der russischen und der deutschen Sprache präzise, einfühlsam und vor allem unentgeltlich vermittelt hat. Namdar hat auch maßgeblich an Übersetzung, Produktion und Finanzierung der beiden Märchen-Bücher mitgewirkt.

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