Gute Luft & gute KunstArtistin

Die Kunstfabrik im Bandlkramerland

Von der industriellen Textilproduktion zum unkonventionellen Kunstraum: In der Kunstfabrik Groß-Siegharts wird auf hohem Niveau ausgestellt. Lisa Bolyos (Fotos und Text) ist ins Waldviertel gereist, um das mit eigenen Augen zu sehen.

Eigentlich ist die Geschichte simpel: Günther Gross und Georg Kuttelwascher, zwei bildende Künstler aus dem Waldviertel, haben einen Raum gesucht, in dem sich Kunst machen und zeigen lässt. Sie sind nach Groß-Siegharts gekommen, wo die Schwester von Günther Gross, die Maria, in der alten Bandlfabrik im Textilmuseum arbeitet, und weil die zweite Hälfte von dieser Fabrik leer stand, wurde sie kurzerhand angekauft, sodass es hier jetzt seit bald einem Jahrzehnt die Kunstfabrik gibt. «Ein offenes Haus, ein Haus für Künstler» soll sie sein, sagt Günther Gross, «ein Ort, der nicht elitär ist», an dem aber Ausstellungen stattfinden, «die wirklich gut sind». Nichts Altbackenes haftet der Kunstfabrik an.

Die Welt reflektieren.

Im Erdgeschoß war einst die Fabrikbesitzerwohnung, aber die ist viel zu groß zum Wohnen, meint Günther Gross. «Da machen wir Ausstellungen.» Anders als die Industriellen bezog der Künstler und Kurator mit seiner Partnerin eine kleine Einheit im oberen Stock.

Wir sitzen im ehemaligen Fabrikbesitzervorzimmer, um uns herum die hellen Ausstellungsräume, in denen gerade noch Tony Spiras wohlüberlegt-absurde Kombinationen von Alltagsgegenständen gezeigt werden: Gummihandschuhe mit Kunstfingernägeln, ein Megaphon auf dem Stiel einer Axt, ein Suppenteller, durch den die Suppe direkt in den Abfluss rinnt. Fünf Ausstellungen werden hier pro Jahr eröffnet, die Künstler_innen finden Günther Gross und seine Kollegin Dominique Gromes auf ihren Streifzügen durch Wien und Niederösterreich. «Es ist junge Kunst», sagt Gromes auf die Frage nach Auswahlkriterien, «und ich finde es wichtig, dass darin irgendeine Form der Auseinandersetzung mit der Welt reflektiert wird.» Im Obergeschoß gibt es außerdem einen Projektraum, in dem noch weitgehend unbekannte Künstler_innen ausstellen können, «die finden wir meistens auf dem Rundgang der Kunstakademie in Wien, dort kennt man uns schon».

Performance im Webspace.

Geht man die Treppen weiter hinauf, eröffnet sich ein imposantes Dachgeschoß, in dem aus Zeiten der frühindustriellen Textilarbeit noch die Webstühle stehen, hölzern und beeindruckend wie die Innereien riesenhafter Klaviere. «Hier ist Platz für alles, was über Ausstellungen hinausgeht – Performance, Musik, Klanginstallationen», sagt Günther Gross, und Dominique Gromes meint: «Die meisten jungen Künstler arbeiten in mehr als einer Sparte und begrüßen es, wenn sie hier auch Performance machen können. Umgekehrt wertet es unsere Vernissagen auf, wenn es einen Live-Act gibt.»

Kürzlich hat das Wiener Duo T&A (Tabitha Dattinger und Astrid Sodomka) hier im Webraum, der sogenannten «Kunstfabrik-X-Tended», eine Textilperformance gemacht, hat Kleidungsstücke mit Bändern an ihren Ursprung, den Webstuhl, rückgebunden. Ein Blouson hängt noch im Raum, eine bordeauxfarbene Strumpfhose scheint zwischen den Webstühlen zu tanzen. Im Textilmuseum nebenan kann man so einem Original noch beim vielfarbigen Bandlweben zusehen.

Bandlkramer und Stoffräuber.

Groß-Siegharts ist sozusagen die Hauptstadt des «Bandlkramerlandes». Die Bandlkramer_innen zogen mit Bauchläden durch die Lande der Monarchie, um Waldviertler Bänder und Bordüren zu verkaufen. Heute erinnert daran der Bandlkramer-Radweg, der von Radl über Groß-Siegharts nach Rosenau führt.

Um von Wien nach Groß-Siegharts zu gelangen, steigt man am Franz-Josefs-Bahnhof in den Zug nach Göpfritz an der Wild. Von dort kommt man mit dem Fahrrad und wochentags auch mit dem Postbus weiter, man lässt das Dorf mit dem schönen Namen Almosen links liegen, kommt durch Kirchberg an der Wild, wo im Ersten Weltkrieg unter anderem Stanislaus Joyce (der Bruder von James Joyce) im Kriegsgefangenenlager interniert war; man kreuzt den Fistritzbach und ist nach wenigen Kilometern und ein paar Kurven in Groß-Siegharts angelangt. Hier wird die Grenznähe eigenartig spürbar, ebenerdige Geschäftslokale säumen die Hauptstraße, dahinter verbirgt sich ein überraschend städtisch anmutendes Areal mit Teich, Rosenbeeten und Sechzigerjahreflair.

Oberhalb des Dorfes residiert am Hügel die Dreieinigkeit aus Kirche, Schloss und Textilfabrik, eine Schule komplettiert die Ansammlung autoritärer Institutionen. Im Schloss sind heute allerdings Gemeindeeinrichtungen untergebracht, durch die offenen Fenster hört man Telefonate und Tastaturgeklapper. Die Textilfabrik, einst die größte im Ort, steht leer. Im August des Jahres 1814 soll Räuberhauptmann Johann Georg (oder Jan Jiří) Grasel Groß-Siegharts besucht haben, um «Stoffe im Gesamtwert von 5.343 Gulden» zu erbeuten – er wurde im 45 Kilometer entfernten Nové Syrovice geboren und begann seine Lehrzeit als Räuber unweit von Groß-Siegharts, in Raabs an der Thaya, wo er 1806 einem Kollegen Schmiere stand; auch wenn man mit seiner späteren Hinrichtung nicht einverstanden sein kann: Sympathieträger war der Grasel sicher keiner, aber dem Waldviertel-Tourismus tut seine Figur gut. Allüberall tauchen Höhlen auf, in denen er sich auf der Flucht vor den Häschern der Obrigkeit angeblich versteckt hat, Gasthäuser werden nach ihm benannt, vor dem Schloss in Groß-Siegharts ist sein Konterfei in eine hölzerne Säule geschnitzt – höher oben noch als das des Grafen von Mallenthein.

Anfang und Ende der Textilindustrie.

Den Mallentheins wiederum gehörte der Groß-Siegharter Rittersitz schon seit den 1680er Jahren, lange bevor Grasel auch nur ein Gedanke war. Johann Christoph, ein Spross der Familie, industrialisierte den Ort mit Textilwaren und machte aus dem 20-Häuser-Schlag eine 1000-Einwohner_innen-Marktgemeinde: Er ließ eine große Fabrik bauen, warb Facharbeitskräfte aus Mähren, Sachsen und Schwaben an und macht mit der Ostindischen Handelskompanie gemeinsame Sache. In Groß-Siegharts wurden nicht in erster Linie Flachs und Schafwolle, sondern Baumwolle verarbeitet. Bis heute zeugen die Fassaden der teils leer stehenden Geschäftslokale im Ortszentrum von der florierenden Textilwirtschaft: «Vorhangstube Susi», «Baumwoll- und Zellwollstoffe» und eben auch: «Kolonialwaren». Lange währte das koloniale Handelsglück jedoch nicht, Graf Mallenthein ging in Konkurs, und die Textilindustrie wanderte von adeligen in bürgerliche Hände. Wo sie bis in die 1990er-Jahre blieb und eine ganze Reihe von Textilfabriken auch am Fuß des Hügels hervorbrachte: «Dann hat der Preiskampf begonnen, und die Fabriken hier haben nicht mithalten können. Das war nicht auf einen Schlag alles aus, aber irgendwann hat auch die letzte Fabrik zugesperrt, und die Arbeitslosigkeit war massiv. Da sind viele Leute weggezogen.»

Erst jetzt schlage das Pendel langsam in die Gegenrichtung aus. Mehr Menschen wollen wieder Waldviertler_innen werden oder wenigstens Wochenend-Waldviertler_innen. Tatsächlich ist der Leerstand im Ort nicht weiter beeindruckend. Und im Waldviertel sei, so Günther Gross, die Lebensqualität einfach höher als in der Stadt. Sauerstoff, Landschaft und Stille – alles im Überfluss vorhanden. «Wenn man’s halt mag», relativiert er dann, um den abgas­einatmenden Städter_innen nicht zu nahe zu treten. Dass so viele Künstler_innen ins kalte Waldviertel ziehen, sei auch nicht weiter verwunderlich: «Die brauchen Ateliers, und anders als in Wien kannst du hier für wenig Geld ganze Hallen mieten. Künstler ziehen dort hin, wo es billig ist, dann werden die Gegenden hip und teurer, und die Künstler ziehen weiter.»

Panikausbrüche und Kunsturlaub.

Seit 23. September wird die Kunstfabrik wieder neu bespielt: In der Galerie im Erdgeschoß hat Eva-Maria Raab, die sich mit analogen Mitteln sozialen Medien nähert, ihre Einzelausstellung. Im Projektraum im Obergeschoß kuratiert Cezara Nicola, die vorher im Kunstraum «weisses haus» in Wien tätig war und für ihr Doktorat vorübergehend nach Bukarest gezogen ist, eine Ausstellung namens «Symbols of Trouble». Den Titel borgt sie sich dabei aus einem Text des Soziologen und Kriminologen Stanley Cohen aus. Der beschreibt in seinem Buch «Folk Devils and Moral Panics» anhand der Jugendkulturen der Mods und der Rockers, wie Massenmedien Gruppen identifizieren, um auf deren Schultern die Schuld an sozialen Missständen und Kriminalität zu laden und sie so zum kollektiven Feind einer ganzen Gesellschaft zu machen. Um zu erforschen, ob Kunst das Potenzial hat, anders als Medien ohne «moral panic», ohne moralische Panikausbrüche auszukommen, wenn sie über gesellschaftliche Verhältnisse spricht, hat Cezara Nicola drei Künstlerinnen aus Europa und Indien eingeladen: Martina Menegon, Julia Amelie und Swati Soharia stellen bis zum 5. November ihre Arbeiten aus.

Zu den gut besuchten Vernissagen kommen vor allem Leute aus der Region, zwischendurch auch wandernde und radelnde Urlauber_innen. Günther Gross findet, auf den Zug des sanften Tourismus könne man schon aufspringen: «Zukünftig werden wir hier auch ein kulturelles Angebot schaffen.» Die verschiedenen Kunst- und Kulturräume der Region schließen sich zusammen und bieten den Rahmen für ein Wochenende Waldviertler Kunsturlaub: Hochwertige Ausstellungen, gute Luft und dazu eine Portion Mohnnudeln – da würde auch der liebe Gott auf Frankreich verzichten.

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