Die NACHBARINNEN engagieren sich für die Selbstständigkeit migrantischer Frauen und deren Familien. Sie zeigen Wege zur ganzheitlichen Integration, die bei den staatlichen Behörden zu kurz kommt.
TEXT: MAGDALENA MAYER
FOTOS: CAROLINA FRANK
Wenn Firdes Acar in der Stadt unterwegs ist, passiert es immer wieder, dass jemand sie erkennt. Bei einem Vernetzungstreffen habe man sie neulich mit «Eine Nachbarin ist da!» empfangen, schildert sie stolz. Es hat sich herumgesprochen, dass sie und ihre Kolleginnen Hilfe zur Selbsthilfe bei Integrationsproblemen anbieten. Acar ist eine von elf Sozialassistentinnen, die als sogenannte NACHBARINNEN im Rahmen der gleichnamigen Initiative die Lebensqualität migrantischer Familien in Wien verbessern wollen. Draußen, wenn sie quer durch die Bezirke Kontakte knüpft, Frauen zu Ämtern oder Kursen begleitet. Drinnen, wenn sie in die Häuser von zurückgezogen lebenden Familien geht, denen der Weg in die Gesellschaft schwerfällt.
An diesem Tag ist Acar in die Nähwerkstatt des Vereins in Rudolfsheim gekommen, um über ihre Arbeit zu reden – was sie stets gerne macht. Auf ihrer Kleidung trägt sie einen Button, der sie als NACHBARIN ausweist. Wegen des Ansteckers wurde sie schon im Supermarkt und der U-Bahn angesprochen. Dann zückt sie ihre Visitenkarte und erklärt die Initiative, für die sie seit neun Jahren tätig ist. 2013, als diese von der Ärztin Christine Scholten und der Sozialarbeiterin Renate Schnee gegründet wurde, machte sie als eine der ersten die fünfmonatige Ausbildung zur Sozialassistentin – und blieb. «Ich habe sofort gesagt, dass ich die Richtige bin», erinnert sie sich. Mit etwa 15 Jahren wurde sie verheiratet und kam aus der Türkei nach Österreich. «Dann habe ich nicht viel gemacht, den ersten Deutschkurs erst nach zehn Jahren besucht.» Sämtliche Probleme, die sie wie viele andere Frauen erfahren hat, die nach Wien flüchten oder aus anderen Gründen kommen, musste sie allein lösen. «Ich hatte keine Information, konnte meinen Söhnen wegen der fremden Sprache nicht helfen», erzählt sie. Ihren Platz in Österreich und eigene Ziele zu finden, dauerte. Heute kann sie mit Vorbildwirkung Frauen mit ähnlichen Schicksalen auf deren Wegen begleiten und motivieren, etwas zu tun.
Transkulturell beraten.
«Bei den NACHBARINNEN spielen viele persönliche Erfahrungen mit», weiß Ayten Pacariz. Sie hat mit Acar die Schulung in Sozialarbeit gemacht, hat aber danach ins Büro gewechselt, und seitdem ist sie die Geschäftsführerin. Dabei greift sie auf eine «kaufmännische Ausbildung» und die türkische Muttersprache zurück. «Alle bei uns haben unterschiedliche Startpositionen, aber ähnliche Hintergrundgeschichten und wollen, dass auch Landsleute weiterkommen. Dass es Frauen gut geht, sie nicht unterdrückt werden, deren Söhne und Töchter gleichbehandelt werden und in die Schule gehen können», erklärt sie.
Acar findet die Familien über Mundpropaganda, auch über Schulen und Einrichtungen wie die Wiener Kinder- und Jugendhilfe. Die Sozialassistentinnen sprechen Arabisch, Farsi, Tschetschenisch, Somali – und Türkisch wie sie. Mit der gleichen Sprache ist es leichter, an Menschen heranzukommen, beschreibt sie. Entscheidend sei auch eine langfristige Betreuung: Zehn bis zwölf Wochen begleitet sie in der Regel Familien, mit einem Besuch pro Woche. «Zuerst schauen wir uns an, welche Probleme es gibt – im Gesamten. Draußen höre ich nur, was mir die Frau erzählt, bei Hausbesuchen sehe ich alles.» Dann redet sie mit jedem Familienmitglied, «bis das Empowerment beginnen kann». Oft hapert es wegen Kleinigkeiten: Wenn das Kind schlecht in der Schule ist, kann es daran liegen, dass der Vater in der Nacht Computer spielt. Aber auch multiple Probleme liegen vor. Diese schreibt sie auf eine Liste und stellt Aufgaben. Sie berät etwa zu Schulsystem sowie zu Wohnungs- und Sozialhilfe, besucht mit Frauen die Bücherei oder das Nachbarschaftszentrum, lädt zu Angeboten des Vereins wie Deutschkonversationsgruppen und dem Bildungsfrühstück, vermittelt Lernhilfe. Dafür bildet sie sich fort, nimmt an Coachings teil und geht zur Supervision, um Situationen wie familiäre Gewalt sortieren zu können.
Nähen für die Selbstbestimmung.
«Während dieser Wochen wird geschaut, dass Familien ein Netzwerk bilden, Anlaufstellen kennenlernen, den Weg ins Arbeitsleben finden», betont Pacariz die Selbstständigkeit als Ziel. Während sie spricht, rattern daneben Nähmaschinen: Die Nähwerkstatt der Initiative ist einer der Wege für Frauen, auf eigenen Beinen zu stehen. Sieben Näherinnen sind hier angestellt, wie die Sozialassistentinnen. Einige besuchten zuerst einen Nähkurs, wie Döne Alıcı. Heute fertigt sie Shopper aus Planen an. Für Firmen und Privatkund:innen entstehen aus ausgedienten Materialien neue Gebrauchsprodukte. Sieben Jahre arbeitet Alıcı nun in der Werkstatt. «Das ist meine erste Arbeit. Ich will bis zur Pension weitermachen, hier ist meine Familie!», ruft sie. Zwei Näherinnen sind ehemalige betreute Frauen, die für ein Praktikum kamen. Für drei Monate vermittelt das AMS so einen Praktikumsplatz als Sprungbrett. Wenn die Finanzierung da ist, kann frau dann auch angestellt werden. Doch es wird ständig um Förderungen gebangt, erzählt Pacariz. Mit Einnahmen der Nähwerkstatt ist das nötige Geld nicht gedeckt. Der Verein ist auf Spendengelder angewiesen.
«Dabei wäre es eine Investition, die in die Stadt zurückfließt», hofft sie auf eine Steigerung der Subventionen. Die WU Wien führte 2014 eine «Social Return on Investment»-Analyse des NACHBARINNEN-Projektes durch. Das Ergebnis: jeder investierte Euro hatte sich durch sozialen Mehrwert fast verfünffacht. «Der große Unterschied zu anderen Beratungsstellen ist, dass wir uns die Familie als Ganzes anschauen und hineingehen. Das gibt es so nirgendwo sonst», betont sie, wie sie ein Defizit bei Integrationsmaßnahmen mit ganzheitlichen, partizipativen und individuellen Maßnahmen ausgleichen wollen. «Oft sagt mir eine Frau beim ersten Gespräch nicht alles», fügt Acar hinzu, wie wichtig der Vertrauensaufbau ist, selbst mehr als ein paar Minuten zu investieren. Bis vielleicht jeder Bezirk eine Auffangstelle mit Nachbarinnen hat, wird sie weiter als mobile Helferin unterwegs sein. Unermüdlich und fröhlich, denn sie weiß von Erfolgserlebnissen zu berichten.