In Vorarlberg wird nach einer «Schule der Zukunft» gesucht
Vorarlberg tut sich in Sachen Teilnahme an politischen Prozessen unter allen anderen Bundesländern hervor. In Bürger_innenräten auf Gemeinde- und Landesebene werden Fragen wie «Was ist wichtig für zukünftige Generationen?», «Wie gelingt Nachbarschaft?» diskutiert, und unter dem adretten Namen «Bildungsbürgerrat» werden Ideen für eine zukunftsfähige Bildung gesponnen: von Leuten, die in Vorarlberg wohnen und per Zufall aus dem Melderegister ausgewählt werden. In einem mehrtägigen Prozess erarbeiten sie Vorschläge für die Praxis – Politikberatung, könnte man sagen. Im November vergangenen Jahres startete Vorarlberg nun die größte Bildungsumfrage seiner Geschichte: Rund 22.000 Schüler_innen, Eltern und Lehrer_innen wurden im Rahmen des Projekts zur «Schule der 10- bis 14-Jährigen» um ihr Expert_innenwissen gebeten. Wie das funktioniert, was mit den Ergebnissen passieren soll und warum Bildungspolitik gern ein wenig mutiger sein darf, hat der AUGUSTIN Gabriele Böheim-Galehr, Vizerektorin für Forschung der Pädagogischen Hochschule Vorarlbergs, gefragt.Woher kommt die Idee zur Befragung?
Die Befragung der Schüler_innen, Lehrer_innen und Eltern wird im Rahmen des Projekts «Schule der 10- bis 14-Jährigen» durchgeführt. Ziel dieses Projekts ist es, auf der Basis einer fundierten Analyse der Rahmenbedingungen in Vorarlberg Vorschläge für die Weiterentwicklung der Schulen der 10- bis 14-Jährigen auszuarbeiten. Dabei geht es um die Schule als Ganzes: die Bedürfnisse der Schüler_innen, die Anforderungen an die Lehrer_innen und die Schulorganisation.
Unsere Aufgabe im Projekt ist es, einen Vorarlberger Bildungsbericht zu erstellen, in dem auch Handlungsmöglichkeiten für eine Schule der Zukunft aufgezeigt werden. Vereinfacht gesagt erreichen erfolgreiche Schulsysteme überdurchschnittliche Leistungen und weisen unterdurchschnittliche sozioökonomische Ungleichheiten auf. Schülerinnen und Schüler haben – unabhängig von ihrem Hintergrund – gleiche Lernmöglichkeiten.
Was wird gefragt?
Wir haben uns für eine sehr breite Befragung entschieden, weil Haltungen zu Bildung und Erwartungen an das Schulsystem eine sehr zentrale Bedeutung bei allen Diskussionen um die Weiterentwicklung von Schule haben. Konkret gefragt: Was bedeutet Bildung? Für mich, für mein Kind, für die Gesellschaft? Was erwarte ich von Schule und wie zufrieden bin ich mit dem aktuellen Schulsystem? In welche Richtung sollte meiner Meinung nach das Schulsystem weiterentwickelt werden? Verschränkte Ganztagesschule, Gemeinsame Schule, Eliteschulen oder inklusive Schulen oder überhaupt etwas ganz anders?
Lehrer_innen fragen wir nach ihren bevorzugten Methoden des Unterrichts. Breiten Raum nehmen bei den Lehrer_innen auch Fragen nach beruflichen Belastungen ein. Schüler_innen fragen wir z. B. nach ihrem Verhältnis zu den Lehrer_innen: wie sie von den Lehrer_innen behandelt werden, ob sie ab und zu gelobt werden, ob sie das Gefühl haben, gerecht benotet zu werden … Eltern fragen wir unter anderem, was ausschlaggebend für die Wahl der Schule für ihr Kind war. Das können sehr unterschiedliche Motive sein: dass die Freunde in diese Schule gehen, dass die Schule nahe am Wohnort ist oder auch, dass die Eltern hoffen, dass ihr Kind in der Schule seine Talente entwickeln kann, oder weil sie meinten, dass es an der Schule wenige «auffällige» Kinder gibt.
Warum geht es gerade um die 10- bis 14-Jährigen?
Das ist ein Auftrag des Landes Vorarlberg. Schule muss natürlich immer als Ganzes mitbedacht werden. Bei der Schule der 10- bis 14-Jährigen geht es um die stark polarisierende Frage: differenziertes Schulsystem oder gemeinsame Schule? Diese Frage wird in Österreich seit Jahren sehr kontroversiell diskutiert. Die Landesregierung möchte mit diesem Projekt auf der Basis eines Vorarlberger Bildungsberichts die Diskussion fundieren.
Wird auch auf spezielle Situationen geachtet, wie etwa auf arbeitslose Lehrer_innen – vorausgesetzt es gibt welche?
Im Augenblick haben wir ja einen eklatanten Lehrer_innenmangel … Die Befragung wird über die Vorarlberger Schulen durchgeführt. Es sind Bundes- und Landeslehrer_innen in Mittelschulen und AHS-Unterstufen eingeladen, sich mit ihrer Expertise einzubringen. Privatschulen mit Öffentlichkeitsrecht sind in die Befragung eingebunden. Ausgebildete Lehrer_innen, die aktuell nicht an einer Schule arbeiten, erreichen wir mit so einer Befragung nicht.
Die Schüler_innen beantworten ihre Fragebögen schriftlich. Sie können die Fragen also durchaus miteinander diskutieren?
Es ist ja ein wesentliches Ziel der Befragung, dass über Bildung gesprochen wird. Aus statistischer Sicht würden wir keine Vollbefragung mit 22.000 Personen brauchen – wir haben das unter anderem mit Ziel gemacht, dass Bildung breit zum Thema wird.
Was wird dann mit den Ergebnissen passieren? Was wird umgesetzt und in welchem Zeitrahmen?
Wir haben die Fragebögen Anfang November verschickt und Anfang Dezember aus den Schulen zurückgeholt. Die Befragung der Lehrer erfolgt internetbasiert, da zeichnet sich bereits ein ausgesprochen guter Rücklauf ab. Die Ergebnisse fließen in das Gesamtprojekt ein, das bis Mai 2015 anberaumt ist. Das Projektergebnis wird ein Vorarlberger Bildungsbericht sein mit Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Schulen der 10- bis 14-Jährigen.
Die Grundsatzgesetzgebung im Schulbereich liegt in der Kompetenz des Bundes, es gibt aber auch Handlungsfelder, die im Land weiterentwickelt werden können. Z. B. der weitere bedarfsgerechte Ausbau der Ganztagesschule, die Umsetzung pädagogischer Konzepte, der Einsatz von Unterstützungssystemen oder Maßnahmen zur Erhöhung der Durchlässigkeit zwischen den Schultypen.
Ich hab mir vor kurzem «Alphabet» von Erwin Wagenhofer (s. Kasten rechts) angeschaut. Da werden teilweise sehr radikale Ideen vorgestellt. Jetzt kann man davon ausgehen, dass viele Teilnehmer_innen der Befragung sich den Film auch anschauen: Wie gehen Sie damit um, wenn wirklich utopische, offene Ideen kommen?
Wie gesagt, das Projekt ist offen. Die Ergebnisse aus den Befragungen werden in den Expert_innengruppen bearbeitet. Es gibt natürlich sehr innovative Modelle von Schulen, die auch im Film von Wagenhofer vorkommen. Innovative Pädagogik wird durchaus von vielen engagierten Lehrer_innen im Regelschulwesen gestaltet. Öffentliche Schulen sind aber – anders als Privatschulen – für alle Schüler_innen verantwortlich. Das heißt, Überlegungen zur Weiterentwicklung von Schule müssen verschiedenste Bedürfnisse berücksichtigen, von der gezielten Unterstützung lernschwacher Kinder bis zur Förderung hochbegabter Jugendlicher.
Ist das in erster Linie eine finanzielle Frage?
Ja, wobei auch internationale Studien sagen, es liegt nicht so sehr an der Höhe der Finanzierung, sondern daran, wie ein Staat die ihm zur Verfügung stehenden Mittel konkret einsetzt. Und die beste Finanzierung ist eine gute Aus- und Weiterbildung der Lehrerinnen und Lehrer: Sie gestalten mit ihrer fachlichen und pädagogischen Kompetenz Schule.
Was bräuchte es also, um spezielle, pädagogisch interessante Schulmodelle im großen Rahmen umzusetzen?
Auch das bestehende Schulsystem gibt Raum für engagierte Direktor_innen und Lehrer_innen zur Weiterentwicklung ihrer Schule. Eine große Strukturreform setzt aber einen gesellschaftlichen Konsens über die Ziele schulischer Bildung voraus, der derzeit in Österreich noch nicht gegeben ist. Eine große Reform braucht mutige Bildungspolitiker_innen und Bildungsverantwortliche, die dafür stehen, dass in unserem Schulsystem alle Kinder unabhängig von ihrer Herkunft dieselben Chancen erhalten.
Interview: Stefan Schartlmüller
Stefan Schartlmüller ist aktiv in der IG Demokratie, die sich für die partizipative Weiterentwicklung der Demokratie und für ein offenes «Demokratiebüro» im Parlament einsetzt. www.demokratiebuero.at
Alphabet
Der letzte Streich seiner Trilogie zum Kapitalismus und dem Schaden, den wir an ihm nehmen, ist Erwin Wagenhofers Dokumentarfilm «Alphabet». Darin geht es weniger um die Mühen der Alphabetisierung als um den Druck, unter dem Kinder und Jugendliche im «herkömmlichen Schulsystem» zu kleinen Eliten ausgebildet oder von Anfang an aussortiert werden sollen. «Pisa» ist da nur eines von mehreren Instrumentarien, die zur Qual der Minimenschen eingesetzt werden.
Wagenhofer schaut sich in China, Deutschland, Frankreich und Spanien um: auf der Suche nach guten Lernsystemen und glücklichen Kindern. Dabei trifft er den überraschend offenen Kritiker seiner eigenen Regierung, Yang Dongping, der sich dafür ausspricht, die Kinder nicht «wie Drachen festzuhalten», sondern frei fliegen zu lassen. Er lässt die Schülerin Yakamoz Karakurt zu Wort kommen, die weiß, dass die Schule nicht das Leben sein soll, aber weil ihr Leben nur aus Schule besteht, «ist da offensichtlich was schiefgelaufen». Und Arno Stern erzählt von seiner Malschule am Rande von Paris, in der er Kinder und Erwachsene seit nunmehr sechzig Jahren das Spielen lehrt, das ihm als Grundlage allen kreativen und selbstbewussten Umgangs mit der Welt erscheint. Erstaunlich wenig wird der Frage nachgegangen, wie Kinder aus mittellosen (also vom Kapitalismus am härtesten gebeutelten) Zusammenhängen zu ihrer Bildung kommen sollen – sei es nun spielerisch oder ganz dem System angepasst. Um das Recht auf gute Bildung, die das Individuum nicht nur in seiner Marktförmigkeit fördert, für alle durchzusetzen, können die Beispiele, die Wagenhofer zeigt, durchaus motivierend sein. Dass die kreative Entfaltung der Kinder «nichts kostet», wie einer der (freiwillig) schulfrei großgewordenen Protagonisten suggeriert, stimmt aber halt nur, wenn das Essen in der Früh auf dem Tisch steht und der Tisch ein Dach überm Kopf hat.
Bleibt zu hoffen, dass sich die Notwendigkeit, glücklich klug zu werden, herumspricht, bevor hierzulande auch das Bildungsministerium im Wirtschaftsressort verschwindet.
Film: www.alphabet-derfilm.at
Buch: Erwin Wagenhofer, Sabine Kriechbaum & André Stern
Ecowin Verlag 2013, 19,95 Euro